Würselen.

„Hier war in den 70er-Jahren noch eine Kuhwiese.“ Andreas Dumke steht vor dem neuen Rathaus von Würselen und ist stolz auf den Mann, der hier elf Jahre Bürgermeister war. Martin Schulz wurde 1987 mit 31 Jahren zum jüngsten Stadtoberhaupt Nordrhein-Westfalens gewählt. Und jetzt, wird der „Machtin“, wie sie hier mit rheinischem Dialekt sagen, SPD-Chef und Kanzlerkandidat. Und dann vielleicht sogar Kanzler.

Dumke, 51, SPD-Stadtverbandsvorsitzender, zählt gerade die „Wegmarken“ in Schulz Karriere als Bürgermeister auf, Kita-Ausbau, das Gewerbegebiet, da kommt Norbert Lynen vorbei, der mit Schulz zur Schule ging. „Ich habe Geschichte studiert, der Martin wusste aber immer viel mehr als ich, vor allem über die Nazi-Zeit“, sagt Lynen. Aber Kanzler werde der Martin nicht, sagt Lynen und lacht. Dumke guckt verdutzt. „Die Merkel bleibt Kanzlerin, und der Martin wird Außenminister.“

Würselen, eine Stadt nördlich von Aachen: knapp 40.000 Einwohner, im Zweiten Weltkrieg fast komplett zerstört, viele Neubauten. Sie liegt im Dreiländereck Deutschland-Niederlande-Belgien. Wenige Spitzenpolitiker sind so eng mit ihrer Heimat verbunden wie Schulz. Hier wuchs er auf, blieb in der Schule sitzen, spielte Fußball, verfiel dem Alkohol, kam davon los und eröffnete eine Buchhandlung, wurde Bürgermeister. Von hier aus wurde er später EU-Abgeordneter und Präsident des EU-Parlaments. Seine Familie lebt noch hier, und Martin Schulz kommt an den Wochenenden her, wenn er keine Termine hat. Fall und Aufstieg in Würselen.

Weihnachtsfeier bei seinem Verein Rhenania Würselen

„Ich hoffe auf eine absolute Mehrheit für die SPD.“ Bürgermeister Arno Nelles (SPD, 62) ist sich sicher, dass Martin Schulz einen kraftvollen Wahlkampf hinlegen wird. Und die fehlende Regierungserfahrung? Schulz war nie Ministerpräsident oder Bundesminister. Das lässt Nelles nicht gelten. „Die Kommunalpolitik ist die Königsdisziplin“, sagt er. Man habe als Bürgermeister einen ganz anderen Zugang zu den Menschen als andere Politiker. Schulz habe das Zeug, Kanzlerin Angela Merkel auf Augenhöhe zu begegnen.

Der Schreibtisch im Zimmer des Bürgermeisters ist noch der von Schulz. Wuchtig, dunkles Holz. Einige Kratzspuren seien vielleicht noch vom Martin, sagt Nelles amüsiert und schaut auf die Tischplatte. Heute komme Schulz immer wieder von Brüssel oder Berlin zurück in die Heimat, um seine Erdung zu finden, sagt Nelles.

Der ehemalige stellvertretende Bürgermeister Harald Gerling (CDU) ist nicht so gut auf Schulz zu sprechen. Schulz sei zwar ein hervorragender Redner und durchsetzungsstark. Aber auch sehr nachtragend. „Der vergisst einfach nix.“ Gerling kommt schnell auf das Spaßbad Aquana zu sprechen. Schulz habe damals den Bau durchgesetzt und das Bürgerbegehren dagegen abgelehnt. Das Schwimmbad fahre bis heute finanzielle Verluste ein.

„Wir kennen ihn alle.“ Bernd Rongen sitzt im Vereinshaus von Rhenania Würselen, er ist Vorsitzender des Fußballvereins. „Das ist das Elternhaus von Martin Schulz“, Rongen zeigt auf ein Haus hinter dem Zaun. Damals habe es noch einen Maschendrahtzaun gegeben, da sei der Martin einfach drunter durchgekrochen, schon sei er auf dem Platz gewesen. Schulz war als junger Mann Spielführer der Mannschaft, die 1972 westdeutscher B-Jugend-Vizemeister wurde. Schulz spielte linker Verteidiger. War talentiert, vor allem motiviert, womöglich auf dem Weg zum Profi, aber dann kam eine schwere Knieverletzung. Aus der Traum.

Rhenania ist ein Verein mit Tradition. Jupp Derwall, Trainer der Europameister-Mannschaft von 1980, stammt von hier. Doch in diesen Tagen sprechen alle hier nur von Martin Schulz. Bei der Weihnachtsfeier war er auch da. Das Kanzleramt trauen sie ihm zu, weil er authentisch sei.

„Wir zwei sind oft gemeinsam versackt.“ Manfred Zitzen, 63, wohnt in einer hellen, aufgeräumten Dachgeschosswohnung in der Nähe des Fußballplatzes. Auch er kennt Martin Schulz schon lange. Sie waren Nachbarskinder, spielten Fußball. Später traten sie der SPD bei. Abends tranken sie immer wieder, Schulz war am Boden, weil er nicht Fußballprofi werden konnte. Bis er am 26. Juni 1980 Schluss mit dem Alkohol machte. Zitzen ist beeindruckt von Schulz’ Willensstärke. Wie dieser den Alkoholismus überwunden hat. Und später von einem Tag auf den anderen mit dem Rauchen aufgehört habe. Das sei kein Handicap, sondern eine Stärke, sagt Zitzen. Ebenso das fehlende Abitur, das fehlende Studium. „Das macht den eher noch stärker.“

Manchmal besucht Schulz mit seiner Frau Inge seinen Freund und dessen Frau Rita. Dann wird gekocht. Zuletzt passierte das immer seltener, weil Schulz so einen vollen Terminkalender hat. „Aber wenn wir zusammen sind“, sagt Zitzen, „wirkt er gelöst.“