Berlin.

Die Warnung kommt aus Marokko. Es ist der 14. Oktober 2016, noch zwei Monate bis zum Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Berlin. Die marokkanischen Behörden alarmieren ihre Kollegen: Der spätere Attentäter Anis Amri sei ein Anhänger des „Islamischen Staates“ (IS), wolle sich dem Dschihad anschließen und im „Land des Unglaubens“ ein „Projekt“ durchführen.

Es ist kein Befund, der die Ermittler elektrisiert. Seit einem Jahr ist Amri ein „Prüffall Islamismus“, seit Mitte Februar 2016 als Gefährder eingestuft und jede Woche Thema bei Polizei und Verfassungsschutz. Man will den Tunesier abschieben, lieber heute als morgen, derweil Zweifel an der „Belastbarkeit der Aussagen bezüglich eines von Amri geplanten Attentats“ wachsen. Noch Ende September 2016 notiert das Bundeskriminalamt: „Es entstand der Eindruck eines jungen Mannes, der unstet, sprunghaft und nur wenig gefestigt ist.“

Aus Marokko kamen neue Warnungen und Hinweise

Am 26. Oktober melden sich die Marokkaner erneut, diesmal mit Details. Sie wissen, wo Amri sich aufhält (Berlin), welche Rufnummer er nutzt und dass er mit drei IS-Sympathisanten verkehrt, einem Russen und zwei Marokkanern. Am 2. November ist ihr Bericht Thema im Gemeinsamen Terror-Abwehr-Zentrum (GTAZ) in Berlin. Das Ergebnis wird in einer knappen Notiz festgehalten: „Auf Grundlage der vorliegenden Erkenntnisse kein konkreter Gefährdungssachverhalt erkennbar.“ Das Bundesamt für Verfassungsschutz wird gebeten, beim marokkanischen Dienst Erkenntnisse „auf deren Aktualität“ zu überprüfen.

Wer nach Versäumnissen und Fehleinschätzungen sucht, wird nicht erst bei der GTAZ-Sitzung fündig. Aber: Ab dem 2. November schließt sich ein Zeitfenster. Im Herbst verliert sich Amris Spur. Ein letztes Mal hatten die Verfassungsschützer aus Nordrhein-Westfalen im Oktober Amris Handy im Großraum Berlin geortet. Anfang Dezember dauert es ganze acht Tage, bis die Polizei in NRW erfährt, dass er in Emmerich abgemeldet ist. Sein Lebensmittelpunkt ist fortan Berlin. Die Intervalle der Einträge werden länger, die Mitteilungen spärlicher. Langsam verschwindet der Tunesier vom Radarschirm – mit fatalen Folgen, wie der 19. Dezember zeigt. Amri tötet mit einem Lkw zwölf Menschen auf dem Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz. Wenige Tage später wird er von Polizisten in Italien erschossen.

Die Hinweise finden sich in der Chronologie wieder, die von der Bundesregierung am Montag vorgelegt wurde, 19 Seiten lang, genau 100 Eintragungen. Die erste datiert vom 4. April 2011, den Tag von Amris Einreise nach Italien. Das Dokument endet am 21. Dezember, zwei Tage nach dem Anschlag, mit der Eintragung „Eingang des tunesischen Passersatzes“. Sowohl Italien als auch Deutschland wollten Amri loswerden. Aber die tunesischen Behörden stellten sich taub. Schon einen Tag nach seiner Einreise beantragen die Italiener für Amri Heimreisedokumente. Sie müssen ihn 2015 aus der Abschiebehaft entlassen, weil Tunesien noch immer nicht geliefert hat.

Das BKA wird am 6. Mai 2016 sogar in Tunis vorstellig. Die Tunesier sagen „schnelle Kooperation“ zu. Aber am 17. Juni haben sie immer noch nicht geliefert. Im selben Monat wird vereinbart, dass die NRW-Behörden in Tunesien anklopfen sollen. Am 25. August beantragt die Ausländerbehörde der Stadt Köln beim tunesischen Generalkonsul in Bonn Passersatzpapiere. Am 20. Oktober lehnt der Konsul ab – die Person sei ihm unbekannt. Dann, vier Tage später, räumen die tunesischen Behörden gegenüber dem BKA-Verbindungsbeamten in Tunis ein, dass sie Amri kennen. Am 27 Oktober stellt die Stadt Köln einen letzten Antrag auf Passersatz.

Es scheint, als sei Amrimehr Ganove als Terrorist

Als gewalttätig und kriminell war Amri schon in Italien (er sitzt dort fast vier Jahre im Gefängnis) aufgefallen. Auch in Deutschland macht er sich nach seiner Einreise im Juli 2015 bald verdächtig. Am 27 Oktober zeigt er einem Zimmernachbarn in der Flüchtlingsunterkunft in Kleve auf seinem Handy „Fotos von schwarz gekleideten Personen, die mit Schnellfeuerwaffen und Handgranaten posieren“ – wohl IS-Kämpfer. Am 19. November deutet der Tunesier geheimnisvoll an, dass er „etwas machen“ wolle.

In den nächsten Wochen prahlt Amri damit, er könne sich „problemlos eine Kalaschnikow besorgen“, wechselweise in Neapel und Paris. Am 14. Dezember 2015 interessiert er sich im Internet für chemische Formeln, die zur Herstellung von Sprengstoff genutzt werden. Am 29. Dezember desselben Jahres plant er einen Einbruch. Den NRW-Behörden schwant, die Beute könnte „zur Finanzierung von terroristischen Aktivitäten genutzt werden“.

Am 28. März 2016 erzählt er einer Kontaktperson, dass er die Anschläge von Brüssel (eine Woche zuvor) befürworte. Am 1. August wird er in Friedrichshafen von der Bundespolizei aufgehalten. Die Behörden haben mitbekommen, dass er mit dem „Flixbus“ Richtung Zürich will. Sie halten Amri auf, wollen ihn im Auge behalten.

Zwischendurch driftet er wochenlang ins kriminelle Milieu ab: Raubzüge, Schlägereien, Drogenhandel. Er selbst nimmt Kokain und Ecstasy, im Spätsommer 2016 ist Amri so zugedröhnt, dass er nicht mehr in die Moschee geht, das Morgengebet und die rituelle Schlachtung zum Opferfest verpasst. Die Sicherheitsbehörden haben Amri ein Jahr lang beobachtet, einen V-Mann auf ihn angesetzt, Gespräche abgehört, Handy ausgelesen. Der Terrorverdacht ist da, aber er wird nie konkret. Es scheint, als sei er weniger ein Terrorist, mehr ein Ganove, ein junger Mann, „der unstet, sprunghaft und nur wenig gefestigt ist“.