Wohin steuert Amerika? Das Land ist gespalten und verunsichert. Mit Trump dürfte alles noch schlimmer werden.

Der englische Prediger John Winthrop erreichte im April 1630 an Bord des Schiffes „Arabella“ zusammen mit zehn weiteren Schiffen und 700 puritanischen Aussiedlern die Massachusetts Bay Colony in der Neuen Welt – eine kleine Siedlung, die zum Kristallisationspunkt der späteren Weltmacht USA werden sollte. Vermutlich bereits vor der Abfahrt in England hielt Winthrop, der bis zu seinem Tod 19 Jahre später fast durchgehend Gouverneur der Kolonie war, eine Predigt. Sie war angelehnt an die Bergpredigt Jesu. „Wir müssen davon ausgehen, dass wir wie eine Stadt auf einem Hügel sein sollen. Die Blicke aller Menschen richten sich auf uns“, hieß es darin über die Zukunft der Siedlung.

Vorbild für den Rest der Welt

Winthrops Formulierung der „city upon a hill“ wurde zum Ausdruck des amerikanischen Selbstverständnisses als leuchtendes Vorbild für den Rest der Welt. Zahllose US-Politiker haben sich ihrer bedient. John F. Kennedy hielt kurz vor seiner Vereidigung als Präsident am 9. Januar 1961 eine Rede mit dem programmatischen Titel „The city upon a hill“; Ronald Reagan verwendete den Begriff „the shining city“, die strahlende Stadt.

In den USA ist die Überzeugung tief verwurzelt, dass dieses Land ein ganz besonderes sei, einzigartig, den anderen moralisch und auch sonst überlegen. Tatsächlich war das Gedankengebäude von bürgerlicher Freiheit, von demokratischer Gleichheit vor dem Gesetz und von staatlicher Gewaltenteilung zunächst in Europa entwickelt, aber zum ersten Mal in praktische Politik in den USA umgesetzt worden – um dann als Erfolgsmodell in die Alte Welt reimportiert zu werden. Die Französische Revolution fand 1789 statt, die USA mit ihren revolutionären Werten entstanden aber bereits 1776.

USA kämpfen an vielen Fronten

Die Theorie des „American Exceptionalism“, der Sonderstellung, lässt die meisten Amerikaner glauben, dass sie ein auserwähltes Volk seien. Der Begriff „gods own country“ – Gottes eigenes Land – ist weit mehr als eine Floskel. Bürgern anderer Nationen geht der unablässig von US-Politikern strapazierte Begriff von der „greatest nation on earth“ gehörig auf die Nerven. In den USA wird dieses patriotische Statement von jedem Politiker erwartet.

Als Barack Obama in einer Rede erwähnte, er sei Oberkommandierender „einer der besten Streitkräfte der Geschichte“, hagelte es sofort Proteste. Doch keineswegs, weil Obama dies als Prahlerei ausgelegt wurde – im Gegenteil. Die frühere Gouverneurin von Alaska und ehemalige Kandidatin für das Amt der Vizepräsidentin, Sarah Palin, sagte aufgebracht, die USA hätten nicht eine der besten Streitkräfte der Geschichte, sondern selbstverständlich d i e besten.

Überzogenes Selbstbild

Ein derartig überzogenes Selbstbild ist typisch für die großen Reiche der Geschichte, angefangen von den Ägyptern, Griechen, Persern und Römern bis zum Britischen Empire und darüber hinaus. Die Briten unter Queen Victoria wähnten sich noch als „Salz der Erde“.

Der verlorene Vietnam-Krieg und die Gräueltaten amerikanischer Soldaten in Südostasien, wie dem Massaker von My Lai 1968 oder der Watergate-Skandal ab 1972 mit dem verlogenen Präsidenten Richard Nixon als Zentralfigur, beschädigten dieses Selbstbild der Amerikaner zwar erheblich, doch der gewonnene Kalte Krieg, der die USA als einzige Supermacht und als globalen Sieger zurückließ, restaurierte die Vorstellung vom „American Exceptionalism“.

Keinen größeren Krieg mehr gewonnen

Nun ist es allerdings so, dass die Vereinigten Staaten von Amerika als wohl noch immer stärkste Militärmacht der Erde seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zwar fast permanent in kriegerische Aktivitäten verwickelt waren, aber seit damals keinen größeren Krieg mehr gewonnen haben. Korea war eher ein Unentschieden, die Feldzüge im Irak und Afghanistan waren in der Konsequenz sogar ein Desaster.

Die Tatsache, dass der Irak-Feldzug ab 2003 völkerrechtswidrig war, dass die Folterexzesse in den US-Gefangenenlagern wie Abu Ghraib und Guantanamo ebenso gegen die uramerikanischen Werte verstießen wie die heuchlerischen „rendition flights“ des Geheimdienstes CIA, bei denen Terrorverdächtige zum Foltern in „black sites“ – geheimen Anlagen – ins Ausland ausgeflogen wurden, da die US-Gesetzgebung systematisches Foltern auf dem Boden der USA verbietet, vermochte bei den meisten Amerikanern keinen prinzipiellen Selbstzweifel wecken.

„Wir Amerikaner tun doch nur Gutes"

Auf die Frage, welche Gefühle und Gedanken ihn bewegten, als 2001 die Zwillingstürme in New York fielen und 3000 Amerikaner starben, sagte ein früheres Mitglied der Eliteeinheit Navy Seals Team Six, Veteran diverser Kampfeinsätze, vor wenigen Jahren zum Abendblatt: „Ich konnte das nicht begreifen. Warum sollte jemand etwas Derartiges tun wollen? Wir Amerikaner tun doch nur Gutes auf der Welt.“ Angehörige anderer Nationen hinterlässt ein solcher Satz meist ratlos. Die Fähigkeit zur Selbstkritik bezüglich ihres Landes ist zumindest bei konservativen Amerikanern keine ausgeprägte Tugend.

Hinzu kommt in den USA das Element des „leadership“, das nicht nur Politiker ständig im Mund führen. „I take it from here“ – ich übernehme das mal jetzt – ist ein oft gehörtes Wort bei Amerikanern; in Politik, Militär wie Geschäftsleben. Viele von ihnen sind davon überzeugt, dass die USA den Auftrag zur Führung der Welt haben.

Gewalt Teil der amerikanischen Kultur

Gewalt zur Durchsetzung von politischen Zielen ist dabei nicht tabu; Gewalt ist ein traditioneller Teil der amerikanischen Kultur, seitdem die „Minutemen“ – superpatriotische junge Milizionäre der frühen USA, binnen weniger Minuten ihre Gewehre von der Wand rissen und kampfbereit waren, gegen welchen Feind auch immer.

Nach diesen legendären Frontkämpfern wurde später eine Klasse von Atomraketen benannt. Im Gegensatz zu den Europäern, den Deutschen zumal, deren Länder Schauplatz eines millionenfachen Sterbens in den beiden Weltkriegen waren, haben die Amerikaner nur ihren Sezessionskrieg zwischen 1861 und 1865 mit insgesamt 600.000 Toten als bitteren Erfahrungswert auf eigenem Boden. Dass jedes Jahr mehr als 30.000 Amerikaner durch Schusswaffen ums Leben kommen, empört erzkonservative Bürger kaum, dass eine US-Regierung das im Zweiten Verfassungszusatz verankerte Recht auf Waffen antasten könnte, dagegen umso mehr.

Geldverdienen als hohes Ideal

Und dass jeder seines Glückes Schmied sei, ist eine so tiefe Grundüberzeugung vieler Amerikaner, dass die staatlich initiierte Krankenversicherung „Obamacare“ nicht nur Republikanern als eklatante Verletzung amerikanischer Prinzipien der Selbstverantwortung gilt. Dass bis zu 50 Millionen Amerikaner keinen ausreichenden Versicherungsschutz hatten (viele haben ihn immer noch nicht), irritiert die Obama-Gegner nicht.

Starken Einfluss bis heute hat die tiefverwurzelte puritanisch-calvinistische Ethik in den USA, die rastloses Schaffen und Geldverdienen als hohes Ideal ansieht. Arbeit ist demnach der von Gott vorgeschriebene Lebenszweck. Reichtum gilt als Zeichen göttlicher Auserwähltheit, Armut als Stigma. Die vulgäre Zurschaustellung von Reichtum etwa durch Donald Trump vermag in Deutschland eher Verachtung bis Ekel zu erzeugen, in den USA wirkte dies zumindest bislang als Ansporn, es ihm gleich zu tun.

Abkopplung von der Realität

Der US-Historiker Morris Berman, der an verschiedenen Universitäten der USA gelehrt hat, merkte kritisch an, dass die starke Betonung der amerikanischen Sonderstellung in der Welt gerade in jüngster Zeit dazu führe, dass sich die Amerikaner von der Realität abkoppelten. Und das war noch vor der Wahl Donald Trumps zum 45. US-Präsidenten. Und auch diese Wahl ist ein Indiz dafür. Trumps zahlreiche Lügen im Wahlkampf, seine sich widersprechenden politischen Äußerungen und seine wahllosen Beleidigungen diverser Gruppen und Individuen hatten an der Urne keine Konsequenzen.

„Postfaktisch“ hat man dieses Vorgehen genannt. Das Abkoppeln von Fakten und Realitäten ist auch eine Spätfolge der verheerenden Politik des früheren Präsidenten George W. Bush. Dessen desaströse Kriege kosteten rund zwei Billionen Dollar, seine elitenfreundliche Wirtschafts- und Sozialpolitik beschleunigte das Auseinanderreißen der Gesellschaft in Arm und Reich. Die maßlose Gier vor allem amerikanischer Banker stürzte das Land in eine Finanz- und Immobilienkrise, von dem es sich bis heute nicht erholt hat.

Millionen in den vergangenen Jahren verarmt

In dieser Krisenlage starb der amerikanische Traum, nach dem es jedem durch Fleiß und Beharrlichkeit gelingen könne, vom Tellerwäscher zum Millionär aufzusteigen. Dieser Traum ist und war Ausdruck eines bis dato unerschütterlichen Optimismus der Amerikaner, dass die Zukunft stets besser ausfallen werde als Gegenwart und Vergangenheit. Amerika – das war eine märchenhafte „yellow brick road“, auf der man in eine verheißungsvolle Zukunft laufen konnte.

Doch plötzlich fühlen sich Millionen Amerikaner, als seien sie aus einer süßen Träumerei in eine raue Realität gerissen worden. Millionen Bürger verloren in der Immobilienkrise ihr Haus – nicht nur bloßes Zuhause, sondern auch steinernes Symbol für den amerikanischen Traum. Das Einkommen durchschnittlicher Bürger sank seit dem Jahr 2000 um rund zehn Prozent.

Kabinett aus Superreichen

Bereits 2010 mussten mehr als 46 Millionen Amerikaner mit Einkommen unterhalb der Armutsgrenze auskommen. Die reichsten 1,2 Millionen Haushalte unter den 320 Millionen Amerikanern steigerten ihr Einkommen dagegen erheblich. Bis in die 80er-Jahre erhielt ein Vorstandsvorsitzender rund 30-mal so viel Geld wie ein typischer Angestellter, heute ist es in großen Unternehmen mehr als das 350-fache.

Diese Schere wird sich unter Donald Trump, dessen Kabinett praktisch ausschließlich aus Superreichen besteht, noch rasant weiter öffnen. Und diese Öffnung klafft jetzt schon weiter als in Staaten wie Uganda oder Kasachstan. Dies alles wird kaum dazu beitragen, den tiefen Riss durch die amerikanische Gesellschaft zu schließen. Die Verunsicherung und die Wut weiter Schichten der amerikanischen Gesellschaft werden zunehmen – mit unkalkulierbaren Auswirkungen auf das politische System. Gerade Amerikaner hassen es, sich als Verlierer zu fühlen.

„American Angst“ mehr als ein Schlagwort

Etwas anderes kommt hinzu: Zum ersten Mal in ihrer Geschichte haben die Amerikaner einen Präsidenten, der nicht nur auf politischen Widerstand stößt wie George W. Bush, sondern dem im Ausland offene Verachtung entgegenschlägt. Amerika hat einen egomanischen, eitlen Mann gewählt, der sich vor den Fernsehkameras in übler Weise über einen Behinderten lustig macht. Um es dann angesichts von Protesten ungerührt abzustreiten. „Ich kann Ihnen ohne Zögern versichern, dass Präsident der Vereinigten Staaten zu sein, ausschließlich eine Frage des Charakters ist“, sagt Michael Douglas in dem Film „The American President“. Ein echter US-Präsident sagte: „Character ist die wichtigste Qualifikation eines Präsidenten der Vereinigten Staaten“. Der Mann hieß Richard Nixon.

Wenn Charakter entscheidend ist – was bedeutet ein Präsident Trump dann für die Supermacht und die Psyche ihrer Bürger?

Amerika 2017 – das ist schon jetzt ein zutiefst gespaltenes, verunsichertes, teilweise hasserfülltes Land. Der Begriff „American Angst“ ist ausgerechnet im Lande des hartnäckigen Optimismus zum Schlagwort geworden. Die Amerikaner haben ihre Möglichkeiten unter George W. Bush militärisch und wirtschaftlich überdehnt und haben in den vergangenen Jahren die politische Kon­trolle über weite Teile der Welt verloren.

Bedenklicher Seelenzustand

Im Nahen Osten ist der Einfluss Russlands inzwischen schon größer; nicht einmal Israel richtet sich noch nach amerikanischen Wünschen. Der Schatten Chinas wird derweil immer länger. Und die USA selber sind eben nicht mehr das weltweit unübersehbare Leuchtfeuer der pluralistischen Demokratie, sondern sie werden politisch zum Sorgenfall mit einem unbeherrschten, irrational agierenden Präsidenten, dem man im Verteidigungsausschuss des Senats dem Vernehmen nach ein halbes Dutzend Mal erklären musste, warum er nicht einfach Atomwaffen auf Amerikas Gegner werfen kann.

Amerika 2017 – das ist noch immer militärisch und wirtschaftlich das stärkste Land der Erde. Doch sein Seelenzustand ist bedenklich; die behauptete moralische Überlegenheit ist längst verloren gegangen. Die Fallhöhe aus der modellhaften „Stadt auf dem Hügel“ hinunter in die Niederungen eines gespaltenen und von Donald Trumps Charakter gezeichneten Landes ist gewaltig. Wenn es den Vereinigten Staaten nicht gelingt, ihre legendären Fähigkeiten zur Erneuerung im Sinne eines pluralistischen, toleranten Gemeinwesens zu mobilisieren, dann könnte die Vorstellung von der Einzigartigkeit der USA eine düstere Bedeutung bekommen.

Morgen lesen Sie die Analyse des US-Journalisten David Patrician, der in Hamburg lebt