Die Bundestagswahl im Herbst dürfte ein Zeichen der Kontinuität senden. Diese Signale sind 2017 dringender denn je

Könnte man Jahre als Ganzes umtauschen, das zu Ende gehende 2016 würden viele sofort zurücksenden. Annahme verweigert, falsche Farbe, es passte nicht. Annus horribilis, möchte man meckern, das Jahr 2016 war für den Anus: Brexit, Berlin, Trump, Terror, Hysterie – wer den Westen für eine Insel der Vernunft und des Friedens in einer Welt des Irrsinns hielt, wurde in den vergangenen Monaten eines Schlechteren belehrt.

Und weil der Mensch dazu neigt, Dinge fortzuschreiben, rechnen nun auch viele Beobachter für das Jahr 2017 mit dem Schlimmsten. Derzeit fürchten viele eine Terrorwelle, die über das Land schwappen könnte.

2015 waren es die Flüchtlinge, die vielen den Schlaf raubten. Die Zuwanderungszahlen des Herbstes wurden auf das Jahr 2016 hochgerechnet. Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz kalkulierte im Februar 2016 wie viele andere mit einer Flüchtlingszahl von 1,5 bis 1,6 Millionen Menschen für das laufende Jahr; inzwischen rechnet man nur noch mit knapp 300.000 neu eingereisten Asylbewerbern. In dem Essay, das vor genau einem Jahr in dieser Zeitung erschien, hieß es zur Diskussion um Zuwanderungskontrollen: „Schon bald könnte die Frage nicht mehr lauten, ob Deutschland dem schwedischen Beispiel folgt, sondern nur noch, wann es nachzieht. Und ob Angela Merkel die Grenzen schließt – oder schon ihr Nachfolger.“

So falsch kann man liegen – es waren die Österreicher; sie linderten die Folgen der naiven deutschen Willkommenspolitik und durften sich dafür von der Kanzlerin noch maßregeln lassen: „Ich bin Österreich nicht dankbar“, ließ die Berliner Kanzlerin verlauten. Dabei dürften die Wiener ihr die Kanzlerschaft gerettet haben. Standen 2016 die Erstversorgung und Unterbringung der Flüchtlinge im Mittelpunkt, geht es jetzt um etwas viel Schwierigeres: Die Integration. Vielen Deutschen dämmert, dass das wohlige Gefühl der guten Tat nicht ewig trägt. Die frohe Botschaft der Kanzlerin, wir schaffen das, trägt längst ein Fragezeichen. Und die Kollateralschäden des deutschen Alleingangs werden in Europa immer deutlicher: Er dürfte den Auslöser für die wenigen Prozentpunkte gewesen sein, die dem Brexit-Lager zum Sieg verhalf. Die Übergriffe von Köln strahlten sogar bis in den US-Wahlkampf.

Im In- und Ausland gilt Merkel als „Fels in der Brandung“

Das hindert die Weltpresse nicht, die deutsche Kanzlerin als Fels in der Brandung eines populistischen Meeres zu feiern. Die New York Times nannte sie sogar die „letzte Verteidigerin des freien Westens“. Derlei Lobeshymnen werden gerade im Hinblick auf die Bundestagswahl angestimmt, die viele Beobachter als letzten Damm gegen die Wellen des Populismus ausgemacht haben.

Doch vor der Bundestagswahl stehen Landtagswahlen an – und Nordrhein-Westfalen hat schon einmal einen Kanzler das Kanzleramt gekostet. „The Trend is your Friend“, der Trend ist nicht nur an der Börse entscheidend, sondern auch für die politische Stimmung. Für Angela Merkel und die Union ist die Lage am 14. Mai viel besser als viele vermuten – sie profitieren dabei vom Desaster, das die CDU vor fünf Jahren erlebte: Das Katastrophenergebnis der Union in Nordrhein-Westfalen von 26,3 Prozent ist kaum zu unterschreiten. Die Union hat hier nichts zu verlieren, die SPD sehr wohl. Sie stellt mit Hannelore Kraft nicht nur die Ministerpräsidentin, sondern kratzte vor fünf Jahren noch an der 40-Prozent-Marke. In aktuellen Umfragen liegen beide „Volksparteien“ bei rund 32 Prozent annähernd gleich auf. Die große Unbekannte ist hier die AfD, die um die zehn Prozent pendelt, sich aber aus Unzufriedenen aus beiden Lagern speist. Der Terroranschlag von Berlin dürfte ihr noch nutzen. Eine Vorhersage kann man schon jetzt treffen: Die Piratenpartei, die vor fünf Jahren ihre kurze Blüte erlebte, wird im Nirwana der Sonstigen verschwinden; an ihre Stelle tritt die AfD.

Die Choreographie der Wahlen spielt der Union in die Hände: Vor der Wahl im bevölkerungsreichsten Bundesland sind die Saarländer am 26. März und Schleswig-Holsteiner am 7. Mai zur Stimmabgabe aufgerufen. Während im Saarland keine größeren Verschiebungen zu erwarten sind und die CDU eine ihrer wenigen Ministerpräsidentenposten verteidigen dürfte, ist ein Machtwechsel in Kiel nicht ausgeschlossen. Die Union liegt derzeit weit vor der SPD und könnte bei einem guten Ergebnis sogar von Schwarz-Grün träumen. Mehr Rückenwind für die Wahl eine Woche darauf kann sich CDU-Spitzenkandidat Armin Laschet in Düsseldorf gar nicht wünschen. Mit diesem Auftakt ins Wahljahr darf Merkel schon fast den Mietvertrag im Kanzleramt verlängern.

Gefahr droht der Kanzlerin von anderer Seite – am wenigsten allerdings durch die SPD oder die vermeintliche Option Rot-Rot-Grün. Die Polarisierung in der Republik treibt die Linke zu weit von der SPD weg – gegen ein Dreierbündnis mit dem Namen „R2G“ darf man getrost wetten. Ein weiterer Profiteur der Polarisierung – zumindest in Maßen – dürfte die AfD sein. Und die FDP. Noch ist sie bundesweit nicht auf allen Radarschirmen aufgetaucht, ab März ist sie wieder da: In Schleswig-Holstein mit Wolfgang Kubicki dürfte es zweistellig werden, in Nordrhein-Westfalen, dem Landesverband von FDP-Chef Christian Lindner, kann die FDP mit dem Einzug ins Parlament fest rechnen – da fällt ein mögliches Scheitern im Saarland kaum ins Gewicht.

Eine wiedererstarkte FDP könnte der Union noch weh tun: Die Liberalen hatten früh vor der Flüchtlingspolitik der Kanzlerin gewarnt und stehen für eine wirtschaftsfreundliche Politik, die die Union in der Großen Koalition aus dem Blick verloren hat. Wenn die bürgerlichen Wähler wissen, dass eine Stimme für die FDP keine verschenkte Stimme ist, wächst die Neigung zum Fremdgehen. Zweistellig zurück in den Bundestag klingt verwegen; ausgeschlossen ist es nicht.

Ausgerechnet Populisten könnten Merkel nutzen

Und doch gibt es viele Unwägbarkeiten, die sämtliche Vorhersagen schreddern könnten. Nach Brexit und Trump-Wahl drohen der Welt nicht nur neue Krisen, sondern auch Konjunktureinbrüche. Bislang fiel das deutsche Wirtschaftswunder der Kanzlerin in den Schoß, aber kein Wunder währt ewig. Hinzu kommt: Der Abschwung wäre auch hausgemacht.

Vor der Bundestagswahl wählen die Holländer ihr Parlament (15. März) und die Franzosen Präsidenten und Parlament. Sollten die Rechtspopulisten Geert Wilders und/oder Marine Le Pen gewinnen – die stärkste Partei in Umfragen stellen die PVV und der Front National derzeit – könnte das zweierlei bewirken: es könnte auch in Deutschland die Populisten befeuern, oder, was wahrscheinlicher ist, einen Gegentrend zurück zu Politikern der Mitte auslösen. Wie sich weitere tödliche Terroranschläge auswirken würden, weiß niemand – genauso wenig wie mögliche russische Propaganda. Es ist kein Geheimnis, dass die Putin-Regierung jeden Kanzler lieber sähe als Angela Merkel. Welche Propaganda-Möglichkeiten den Russen zuzutrauen sind, zeigt der Fall der 13-jährigen Russlanddeutschen aus Marzahn. In russischen Medien heiß es im Januar über Wochen, Südländer hätten die Minderjährige vergewaltigt, Deutschrussen gingen auf die Straße, sogar Außenminister Sergej Lawrow mischte sich in den Fall ein und warf der Polizei Verschwörung vor. Alles falsch.

Es sind viele Kräfte am Werk, die daran arbeiten, dass das kommende Jahr kaum besser wird als das zu Ende gehende war. Unser Trost für 2017 könnte von Erich Kästner kommen:

Wird’s besser? Wird’s schlimmer?, fragt man alljährlich. Seien wir ehrlich: Leben ist immer lebensgefährlich!