Berlin/Düsseldorf. Silvester 2015 und Neujahr herrscht in Köln Anarchie. 1. Januar wird zum schwarzen Freitag der Flüchtlingspolitik. Einschneidende Folgen für Willkommenskultur. Eine Rückschau

Vielleicht ist es grausam, vielleicht heilsam. Ina Scharrenbach will bloß den Opfern eine Stimme geben. Deswegen ertönen jetzt vom Band die Notrufe dieser Nacht. Sirenen heulen, Böllerschüsse donnern, dazwischen die Stimmen der Angst: „Da stehen lauter Leute, und wenn man da durchläuft, dann begrapschen die einen und die langen einem unters Kleid, aber so richtig.“ Eine junge Frau wimmert, „die greifen mir unter das Kleid, und die Polizei macht nichts“. Ein Mann ruft ins Mobiltelefon: „Hier ist der Ausnahmezustand.“ Ein anderer meldet hörbar fassungslos: „Es ist wirklich Anarchie, was da los ist.“ Köln, Silvesternacht 2015/2016, sie verfolgt Opfer, Polizei und Politik bis heute. Dass sich ein „zweites Köln“ ereignet, ist ausgeschlossen. Für den diesjährigen Stresstest ist die Polizei gerüstet: mehr Personal, bessere Ausrüstung. Köln wird diesmal der sicherste Ort Nordrhein-Westfalens sein.

Es sind 150 Zeugen gehört und rund 100.000 Aktenzeichen durchleuchtet, als die CDU-Abgeordnete Scharrenbach im Oktober auf die Idee kommt, die Notrufe der Silvesternacht dem Untersuchungsausschuss des nordrhein-westfälischen Landtags vorzuspielen. Im Parlament kehren sie zusammen, was zu Bruch ging. Es sind auch die Scherben der Ausländerpolitik.

Eine Verurteilung ist in vielen Fällen unwahrscheinlich

Die Täter haben überwiegend einen Migrationshintergrund und folgen einem Muster, das aus Ägypten, dem Libanon, Syrien und Saudi-Arabien bekannt ist. Für gemeinschaftliche sexuelle Belästigung gibt es im Arabischen einen eigenen Begriff: „Taharrush gamea.“ In Köln, aber auch in Hamburg, Stuttgart und Frankfurt ist das Phänomen schockierend neu. Auch aus Finnland und Schweden werden ähnliche Vorfälle gemeldet.

Man kann den Verlauf der Kölner Nacht grob in zwei Phasen aufteilen. Bis 23.30 Uhr füllen sich der Bahnhofsvorplatz, Domtreppe und-platte. Die Leute trinken, kiffen und feuern Raketen ab, die Menge wächst auf 1.000 bis 1.500 Menschen an, die Stimmung wird aggressiver. Es gibt Rangeleien, es wird viel geklaut, Handys, Handtaschen. Die Polizei räumt den Vorplatz und Domplatte.

Über die U-Bahn-Zugänge weichen die Gewalttäter dann Richtung Hauptbahnhof aus, Phase zwei. Hier geraten die Dinge außer Kontrolle. Im Einsatzleitstellensystem der Bundespolizei sind erstmalig ab 1.44 Uhr sexuelle Übergriffe gegen Frauen dokumentiert. Die Männer bilden am Bahnhofseingang Gassen, scheinbar, um Zutritt zu ermöglichen, aber dann schnappt die Falle zu: Frauen werden eingekesselt, bestohlen, bedrängt, begrapscht. Die Polizisten haben Mühe, auch nur den äußeren Ring zu durchbrechen und den Frauen zu helfen.

Nebenan auf der Brücke droht eine Panik, das Gedränge ist unerträglich. Die Menge weicht auf die Gleise aus, die Bundespolizei muss den Verkehr sperren, ihre Kräfte sind an zwei Bahnsteigen gebunden. Erst um vier Uhr beruhigt sich die Lage. Vor dem Untersuchungsausschuss analysiert der Präsident der Bundespolizei, Dieter Romann: „Bis null Uhr hat die Bundespolizei die Landespolizei unterstützt und ab null Uhr die Landespolizei die Bundespolizei.“

Die Dynamik der Krawalle erklärt sich Rudolf Egg mit der amerikanischen „Broken-Windows-Theorie“. Sie besagt: Wenn Straftaten ohne Konsequenzen bleiben und anonym begangen werden können, sinkt die Hemmschwelle. Ein harter Kern an jungen Migranten habe sich womöglich zu Übergriffen verabredet. Doch erst die Hilflosigkeit des Staates habe sie entfesselt, analysiert der Wiesbadener Psychologe und Kriminologe vor dem Ausschuss. Dort erzählen Frauen, wie Polizisten sie wegschicken oder stundenlang warten lassen, bis ihre Anzeigen aufgenommen werden. „Dafür waren es einfach zu viele zur gleichen Zeit“, verteidigt sich ein Beamter. Die NRW-Einsatzzentrale verzichtet darauf, nach Verstärkung zu rufen. Polizisten müssen gefasste Täter laufen lassen, um dem nächsten Opfer zur Hilfe zu eilen. Ihm sei eine Respektlosigkeit begegnet, „wie ich sie in 29 Dienstjahren noch nicht erlebt habe“, klagt ein Beamter.

Romann nickt. Der Präsident der Bundespolizei sitzt im Büro in Potsdam und erinnert sich, „am 6. Januar waren die Beamten bei mir, teilweise mit Tränen in den Augen“. Nicht helfen zu können, sei mit ihrem Berufsethos nicht zu vereinbaren. „Das nagt an den Beamten bis heute.“ 67 Mann waren im Einsatz, doppelt so viele wie im Vorjahr – und doch nicht genug. „Wir waren blank“, sagt Romann. Ein Großteil seiner Leute war an der Grenze, die auch zu Silvester von 3527 Flüchtlingen passiert wird. Gleichzeitig herrscht in München Terroralarm, Romann ist deswegen bis drei Uhr im Dienst. Aber von Köln erfährt er erst am 4. Januar – aus der Presse. Er kann nach eigenen Worten keine Fehler seiner Behörde erkennen, mit einer Ausnahme: das Meldeverhalten der Beamten. Sie hätten ihn früher informieren müssen. Da ahnt man, warum die Kölner Beamten am 6. Januar bei ihrem Präsidenten in Potsdam antanzen müssen.

Mehr als 1200 Anzeigen wurden erstattet, gut 500 wegen sexuell motivierter Taten. In fast 400 Fällen konnte kein Verdächtiger ermittelt werden, in vielen weiteren gilt eine Verurteilung als unwahrscheinlich. Wegen sexueller Nötigung konnten sechs Männer verurteilt werden. Die „Beweislage“: Erinnerungslücken, schlechte Lichtverhältnisse, verwackelte Videos, vage Hinweise.

Die Anarchie der Nacht bestärkt die Kritiker der Flüchtlingspolitik. In Köln sei deutlich geworden, „welches Konfliktpotenzial wir uns ins Land holen“, sagt Ex-Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU). Dass es Tage brauchte, bis die Vorfälle öffentlich thematisiert wurden, als ob Polizei, Politik und Medien unter einer Decke steckten, habe „Verschwörungstheoretikern alle Türen geöffnet“. Für CSU-Chef Horst Seehofer ist „eine partielle Ohnmacht des Staates offenbar geworden. Da geht auch ein Stück Glaube in die Handlungsfähigkeit eines Rechtsstaates verloren.“ CSU-Mann Friedrich wundert sich, wie spät die Politik von Köln Notiz genommen hat. „Auf Facebook gab es schon am Nachmittag des 1. Januar erste Hinweise“, erzählt er. Das böse Wort vom „Schweigekartell“ geht auf Friedrich zurück. Ein Jahr danach klingt er milder: „Ich kann das Bemühen nachvollziehen, kein Öl ins Feuer zu gießen. Allerdings darf dabei nicht der Eindruck von Vertuschung und Verharmlosung entstehen.“

In der Kölner Polizei heißt es, ein Anrufer aus der Landesleitstelle habe noch am Neujahrstag verlangt, das Wort „Vergewaltigung“ aus einer ersten internen Polizei-Meldungen zu streichen. Dies sei ein „Wunsch aus dem Ministerium“. Der Anruf kann nicht rekonstruiert werden.

Allein der Verdacht, im Namen einer falsch verstandenen Willkommenskultur solle das Wüten eines Migranten-Mobs verschwiegen werden, wiegt schwerer als alle Pannen. Der Eindruck, es solle über die ungeheuerlichen Übergriffe nicht gesprochen werden, war „mit das Schlimmste“, wird Bundeskanzlerin Angela Merkel Monate später sagen.

In der Pressemitteilung der Kölner Polizei ist am 1. Januar groteskerweise von einem entspannten Einsatz die Rede. Der Realitätsverlust wird dem Polizei-Präsidenten Wolfgang Albers zum Verhängnis. Er muss gehen. Bis heute sieht er sich als Sündenbock und beteuert, schon bei den ersten Berichten seiner Beamten die Gefahr erkannt zu haben, dass die Flüchtlingspolitik in Verruf gerät: „Mir war bewusst, dass das erhebliche politische Auswirkungen hat.“ NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) reagiert am 5. Januar – nur schriftlich. Es ist ihre Art, das Ereignis fern von sich zu halten – und ein kommunikativer Fehler, wie sie einräumt.

Am 5. Januar wagt sich Innenminister Thomas de Maizière (CDU) aus der Deckung. Auf die Frage, ob die Polizei versagt habe, antwortet er in den „Tagesthemen“, das frage er sich auch. „So kann Polizei nicht arbeiten.“ Im Sicherheitsmilieu kommt es einem Tabubruch gleich. Nicht die Kritik. Sondern die öffentliche Bloßstellung. „Das macht man nicht“, schimpft der Vizechef der Gewerkschaft der Polizei, Jörg Radek.

De Maizière lenkt Fokus vom Bund auf NRW und die Polizei

So viel Kaltblütigkeit hatte man de Maizière nicht zugetraut: Er lenkt die Aufmerksamkeit vom Bund auf das Land, von der Politik auf die Polizei. Zehn Monate später ist in der Innenministerkonferenz vom Versagen dann keine Rede mehr, sondern von einem „unvorhersehbaren Phänomen“. Es ist die kollektive Selbstabsolution der Politik.

Politisch hat die Silvesternacht „wie ein Gefrierschock auf die Flüchtlingsdebatte gewirkt“, wie SPD-Vizechef Ralf Stegner gerade der „Huffington Post“ sagte. Vier Monate liegen zwischen den Bahnhofsbildern in München, wo Flüchtlinge großherzig empfangen worden waren, und den verstörenden Bildern von Köln. Diese Linie wird im Ausland sofort und brutal direkt gezogen. Ein Kolumnist der „New York Times“ schreibt damals: „Wenn Sie glauben, dass eine alternde, säkulare und weitgehend homogene Gesellschaft eine Zuwanderung von solcher Größe und mit einem solchen Ausmaß an kulturellen Unterschieden friedlich auffängt, dann haben Sie eine große Zukunft als Sprecher der derzeitigen deutschen Regierung – und Sie sind außerdem ein Narr.“

„Ach Gott“, stöhnt der echte Sprecher, „das ist lange her.“ Am Telefon versucht Steffen Seibert, die Ereignisse zu rekonstruieren. Das Kanzleramt ist am 4. Januar alarmiert, es ist der erste Werktag im neuen Jahr. „Das Gefühl – von Frauen in diesem Fall –, sich völlig schutzlos ausgeliefert zu fühlen, ist auch für mich persönlich unerträglich“, sagt Merkel am 7. Januar. Nachdem sie mit der Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker telefoniert hat, fordert Merkel, es müsse alles auf den Tisch kommen. Von Abschiebungen ist die Rede, „um hier klare Zeichen zu setzen an diejenigen, die nicht gewillt sind, unsere Rechtsordnung einzuhalten“. Man spürt eine Verhärtung. Für Hunderttausende unschuldiger Flüchtlinge ist der 1. Januar 2016 ein schwarzer Freitag, der Anfang vom Ende der Willkommenskultur. Ihre Halbwertzeit betrug vier Monate.