Berlin. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker über den Anschlag von Berlin, die europäische Flüchtlingspolitik und die Türkei als Partner

Für Europa geht ein dunkles Jahr zu Ende. Der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, will sich von den Krisen aber nicht entmutigen lassen – erst recht nicht nach dem Terror in Berlin.

Herr Juncker,Sie werden als „unverbesserlicher Optimist“ beschrieben. Sind Sie das nach diesem Jahr immer noch?

Jean-Claude Juncker: Natürlich. Europa braucht Realismus und manchmal auch Optimismus, nicht nur Beobachter, die alles schlechtreden. Auch wenn uns in diesem Jahr viele Ereignisse bewegt haben – vom Terror über das britische Referendum bis hin zur Flüchtlingsfrage –, bin und bleibe ich zuversichtlich. Mit entschlossenem Handeln können wir auf der Grundlage unserer Werte Freiheit, Sicherheit und Einheit in Europa bewahren und stärken.

Der Terror hält Europa fest im Griff, in dieser Woche hat es einen schrecklichen Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt in Berlin gegeben.

Diese Nachricht so kurz vor Weihnachten, dem Fest des Friedens, hat mich wie viele andere Menschen sehr erschüttert. Ich stimme Kanzlerin Merkel vollkommen zu: Der Terror hat uns nur dann im Griff, wenn wir das zulassen. Deshalb dürfen wir uns nicht von der Angst lähmen lassen und den Extremisten die Deutung der Geschehnisse überlassen. Gegen den Hass der Terroristen müssen wir den geballten Willen und die Werte der Bevölkerung setzen, die frei, offen und friedlich miteinander leben möchte. Die Menschen, mit denen ich nach den Anschlägen in Berlin, Paris, Nizza und Brüssel gesprochen habe, stehen für genau diese Haltung. Sie reagieren besonnen – und erwarten das auch von der Politik.

Dem Terror von Berlin ist ein beispielloses Versagen der Sicherheitsbehörden vorausgegangen. Tut Europa genug für den Schutz der Menschen?

Wir sind bereits besser gewappnet als noch vor einem Jahr. Seit ich im Amt bin, arbeitet die Europäische Kommission unermüdlich daran, die Sicherheit der Europäer zu verbessern. Welchen Stellenwert das Thema hat, können Sie schon daran ablesen, dass ich eigens einen Kommissar für die Sicherheitsunion eingesetzt habe. Innere Sicherheit ist zwar primär eine Angelegenheit der Mitgliedstaaten. Doch in einer Zeit, in der Terroristen nicht an Grenzen haltmachen, reichen die Mittel nationaler Innenpolitik alleine nicht mehr aus. Wir müssen daher über Grenzen hinweg sehr viel besser zusammenarbeiten.

Das fordern viele – doch wenig geschieht.

Mir geht es darum, Informationen vor allem im Schengen-Raum besser auszutauschen, Schlupflöcher für Terroristen zu schließen und ihre Finanzquellen trockenzulegen. Zu all diesen Fragen hat die Kommission gerade erst konkrete Vorschläge vorgelegt, die wir nun so schnell wie möglich umsetzen sollten.

Der mutmaßliche Attentäter von Berlin ist als Asylbewerber nach Deutschland gekommen. Was bedeutet das für den Zusammenhalt der Gesellschaft – und für die europäische Flüchtlingspolitik?

Noch laufen die Ermittlungen, wir können und sollten daher keine voreiligen Schlüsse ziehen. Gleichwohl bleiben die Grundwerte, für die die Europäische Union einsteht, unverändert. Europa muss den Menschen, die aus den Kriegsgebieten und vom Terror fliehen, Zuflucht bieten. Es wäre falsch, alle Flüchtlinge unter einen Terrorismus-Generalverdacht zu stellen. Hass und Terror haben keine Religion, kein Geschlecht, kein Herkunftsland. Wer trotzdem auf die Rhetorik der Ausgrenzung aufspringt, lässt sich auf die Denke der Extremisten ein und befeuert deren Spirale des Hasses. Das schafft weder Lösungen noch hilft es den Opfern und ihren Angehörigen. Wir sollten lieber auf die Mittel des Rechtsstaates setzen, um den Terror zu bekämpfen. Unsere Werte, unsere Art des Zusammenlebens in Freiheit, im Miteinander und in Offenheit sind die besten Waffen gegen den Terror.

Stellen Sie sich darauf ein, dass sich die Flüchtlingskrise – auch wegen der Tragödie in Syrien – im neuen Jahr wieder verschärft?

Europa ist besser aufgestellt als im vergangenen Jahr. So sehr uns die Lage in Aleppo bewegt und machtlos fühlen lässt, so sehr konnten wir immerhin dazu beigetragen, die Strukturen ringsherum zu verbessern ...

… woran machen Sie das fest?

Seit dem Abkommen mit der Türkei sind 97 Prozent weniger Flüchtlinge aus der Türkei auf den griechischen Inseln angekommen, während wir gleichzeitig durch ein europäisches Umsiedlungsprogramm legale Wege nach Europa eröffnet haben. In Rekordzeit konnten wir außerdem eine europäische Grenz- und Küstenwache aufbauen, mit der wir unsere gemeinsamen Grenzen endlich gemeinsam schützen. Außerdem sind wir dabei, unser Asylsystem solidarischer zu gestalten, sodass Flüchtlinge künftig fairer in alle Mitgliedstaaten verteilt werden können. Darüber hinaus stehen wir bereit, den Syrern zu helfen, wo immer möglich – sei es durch Hilfslieferungen und Diplomatie oder später beim Wiederaufbau eines Friedens.

Die Türkei entwickelt sich mehr und mehr zu einem autoritären Staat. Bleibt sie Partner in der Flüchtlingskrise?

Wir haben gerade ein Projekt auf den Weg gebracht, das weiteren 70.000 syrischen Flüchtlingskindern in der Türkei den Zugang zu Schulbildung eröffnen wird. Wir arbeiten außerdem daran, Hunderttausenden jungen Menschen eine Berufsperspektive zu bieten, und wir versorgen gemeinsam mit dem Welternährungsprogramm Zehntausende Flüchtlinge mit Nahrung. Das sind nur drei Beispiele, die zeigen, worum es geht bei unserer Partnerschaft mit der Türkei. Wir müssen die Lage der Flüchtlinge in der Region verbessern, und das tun wir unter anderem, indem wir insgesamt drei Milliarden Euro mobilisieren. Geld, das direkt syrischen Flüchtlingen und ihren Gastgemeinden zugutekommt. Gleichzeitig arbeiten wir daran, den Schleppern das Handwerk zu legen, die sich an der Not der Flüchtlinge bereichern und in Kauf nehmen, dass Frauen, Männer und Kinder die Überfahrt mit dem Leben zahlen. Auch hier können wir Erfolge verbuchen. Denn die Zahl derjenigen, die im östlichen Mittelmeer vermisst oder ertrunken sind, ist um 90 Prozent gesunken.

Der türkische Präsident Erdogan droht wiederholt, sich von Europa abzuwenden.

Bei allen Sorgen, die mir die Türkei manchmal bereitet, bringt die Zusammenarbeit mit dem Land doch positive Ergebnisse. Wir helfen Menschen in Not. Darüber hinaus ist meine Position zur Türkei unverändert. Es lohnt sich wegen der Menschen, mit dem Land im Gespräch zu bleiben und dabei zu helfen, dass es sich wieder auf die Europäische Union zubewegt. Wir halten unseren Teil der Abmachungen ein und gehen davon aus, dass die Türkei das auch tut.