Berlin. Bundespräsident Joachim Gauck besucht Attentats-Opfer am Krankenbett. Zwölf Schwerverletzte liegen noch auf den Intensivstationen der Berliner Kliniken

Julia Emmrich

Er hätte zuschauen können oder weglaufen. Doch als er sieht, wie der todbringende Lastwagen am Montagabend endlich am Fuß der Berliner Gedächtniskirche zum Stehen kommt, läuft er los, bahnt sich einen Weg zu den Verletzten, will helfen. In genau diesem Moment aber löst sich ein Balken von einem zerstörten Weihnachtsmarktstand und stürzt ihm ins Genick. Der Helfer wird schwer verletzt ins Virchow-Klinikum der Berliner Charité gebracht.

„Wäre er am Rand stehen geblieben und hätte Handyaufnahmen gemacht, wäre ihm nichts passiert“, sagt Bundespräsident Joachim Gauck am Mittwochmorgen nach einem Besuch am Krankenbett. Der selbstlose Weihnachtsmarktbesucher aber hat nicht gefilmt, sondern sein Leben riskiert – um das Leben der anderen zu retten.

Gauck ist zusammen mit seiner Lebensgefährtin Daniela Schadt gekommen, um den Verletzten Mut zu machen und den Klinikmitarbeitern zu danken. „Die Menschen sollen spüren, dass sie nicht allein sind“, sagt Gauck. „Ich habe sie an die Kraft erinnert, die in ihnen steckt.“ Die überlebenden Opfer des Attentats sind auf Krankenhäuser in der ganzen Stadt verteilt worden – die Charité hat 13 von den rund 50 Verletzten aufgenommen. Zwei von ihnen waren so schwer verletzt, dass sie nicht wieder reanimiert werden konnten. Ein weiterer konnte inzwischen entlassen werden. Auch etliche eher leicht verletzte Opfer aus anderen Kliniken sind inzwischen wieder zu Hause.

Mindestens zwei Verletzte ringen noch mit dem Tod

Insgesamt wurden am Mittwoch in den Berliner Kliniken noch zwölf schwer verletzte Patienten auf der Intensivstation behandelt, mindestens zwei von ihnen kämpften nach Angaben der Gesundheitsverwaltung noch um ihr Leben. Die Zahl der Todesopfer lag bis zum Mittwochabend ebenfalls bei zwölf Personen – und hatte sich damit gegenüber Montag nicht weiter erhöht. Die Identifikation der Todesopfer dauerte nach Angaben des Bundeskriminalamts (BKA) allerdings auch am Mittwoch weiter an. Am Tag zuvor waren bereits sechs Personen identifiziert worden, in weiteren Fällen standen die Ergebnisse der Laboranalyse noch aus.

Schwere Verletzungen der Beine und des Beckenbereichs, Quetschungen und Brüche, dazu Schädeltraumata – das sind nach Auskunft der Charité die häufigsten Verletzungen der Opfer des Attentats. Während in den ersten 24 Stunden die unmittelbare medizinische Versorgung im Zentrum stand, rückten am Mittwoch die seelischen Schäden, die Traumatisierung der Opfer, in den Mittelpunkt. „Am zweiten Tag beginnt die psychologische Aufarbeitung“, sagte Charité-Sprecher Uwe Dolderer dieser Zeitung.

Die Kliniken dürfen zum Schutz der Verletzten keinerlei Angaben über Herkunft, Alter oder Geschichte ihrer Patienten machen. Doch einige der Opfer meldeten sich in den Stunden nach dem Anschlag von selbst und erzählten, was ihnen passiert ist. Wie der junge Spanier Inaki Ellakuria, der über Twitter den Moment schildert, als der Lastwagen in der Budengasse des Weihnachtsmarktes auftauchte und in die erste Bude krachte. „Ich drehte mich um und hatte ihn vor meinem verdammten Gesicht.“ Der Truck überrollte Ellakurias Beine, der Schmerz sei unerträglich gewesen. Nach Medienberichten erlitt der junge Mann, der offenbar als Austauschstudent in Berlin war, mehrere Brüche, unter anderem an der Hüfte.

Auch unter den Toten von Montagabend sind nicht nur Berliner. Ein Familienvater aus dem Ruhrgebiet wurde getötet, bei anderen Reisenden ist die Lage noch unklar: Ein Mann mit israelischem Pass, der mit seiner Frau den Weihnachtsmarkt besucht hatte, war schwer verletzt in eine Berliner Klinik eingeliefert worden, seine Frau wurde am späten Dienstagabend noch vermisst. Auch eine 31-jährige Italienerin, die seit drei Jahren in Deutschland lebt, galt zuletzt noch als vermisst – nur ihr Handy wurde am Ort des Anschlags am Breitscheidplatz gefunden.

Zu den Opfern gehören jedoch auch Menschen, die auf dem Weihnachtsmarkt gearbeitet haben: „Ich habe gerade Glühwein ausgeschenkt, da brettert der Laster auf uns zu“, erzählte René Köchel dem „Tagesspiegel“. Der 52-Jährige arbeitet seit den Neunzigern auf Weihnachtsmärkten. „Ich bin mit einer Kollegin zur Seite gesprungen, da sehe ich die Räder vom Lkw.“ Köchel berichtete, wie er stürzte und Sekunden später den Glühweinstand über sich zusammenbrechen sah. Er konnte sich retten, auch seine Kollegin überlebte.