Berlin. Wie sicher ist Deutschland? Die Sicherheitsbehörden haben den Anschlag kommen sehen, konnten ihn aber trotzdem nicht verhindern

Viel kann Angela Merkel (CDU) nicht ausrichten. Gefühl zeigen, das kann sie aber. Mitgefühl mit den Opfern des Anschlags von Berlin. Am Morgen gibt sie eine einfühlsame Erklärung ab, am Nachmittag besucht sie dann den Breitscheidplatz. Am Tatort legt die Kanzlerin weiße Rosen nieder und trägt sich ins Kondolenzbuch ein.

Der Terror hat die Republik erschüttert, die kollektive Unsicherheit hält an, für Merkel ist es auch ein Moment großer Einsamkeit. Sie spricht die Zweifel, die ihre Politik begleiten, offen an: „Ich weiß, dass es für uns alle besonders schwer zu ertragen wäre, wenn sich bestätigen würde, dass ein Mensch diese Tat begangen hat, der in Deutschland um Schutz und Asyl gebeten hat. Dies wäre besonders widerwärtig gegenüber den vielen Deutschen, die tagtäglich in der Flüchtlingshilfe engagiert sind.“

Der Mann, der für Merkel das Heft des Handelns verwaltet, ist hin- und hergerissen. Gerade hat Innenminister Thomas de Maizière (CDU) veranlasst, bundesweit die Sicherheitsmaßnahmen zu erhöhen. Dass die Weihnachtsmärkte in Berlin am Dienstag nicht öffnen, versteht er auch – so viel Pietät muss sein. Wenn es nach ihm ginge, würden überall die Karussells und der ganze Rummel ruhen. Aber auf dem Weihnachtsmarkt eine Krippe zu kaufen, „finde ich schön“, sagt der Christdemokrat. Es ist die Normalität, die er nicht missen möchte. De Maizière wirkt in diesem Moment so angefasst, so verwundbar. Aber auch trotzig: „Weichen wir zurück, dann haben die Feinde der Freiheit schon gewonnen.“ Aber ist Deutschland auch sicher genug für die Rückkehr zur Normalität? Es ist die Frage, die sich jäh und unvermittelt aufdrängt, und für einen Innenminister ist es die Schlüsselfrage.

Am Vorabend war de Maizière ins Lagezentrum in seinem Ministerium geeilt. Am Morgen danach schaltet er sich mit seinen Länderkollegen kurz. „Lageangepasst“ sollen die Sicherheitsmaßnahmen verschärft werden. Verstärkte öffentliche Präsenz der Polizei, „sichtbar und robust“: Beamte mit Schutzwesten, Maschinenpistolen im Anschlag. Es ist eine Machtdemonstration, zur Abschreckung von Nachahmertätern und zur Beruhigung der Bürger. Der saarländische Innenminister Klaus Bouillon (CDU) spricht gar von einem „Kriegszustand“.

Es gibt schätzungsweise 2000 Weihnachtsmärkte in Deutschland, 5700 Bahnhöfe und Haltepunkte, eher noch mehr Fußgängerzonen – allesamt weiche Ziele. Silvester steht vor der Tür, Partys auf allen Plätzen. Schon im vergangenen Jahr herrschte zum Jahreswechsel Terroralarm in München. Die Polizei kann nicht überall zur gleichen Zeit sein. Das weiß man aus leidvoller Erfahrung, ein Jahr nach der Kölner Silvesternacht. Kann man nicht wenigstens die Weihnachtsmärkte sperren, die neuralgische Punkte einer Stadt mit Poller für den Verkehr sperren, sodass kein Terrorist wie in Berlin in eine Menschenmenge rasen kann? „Das ist einigermaßen abenteuerlich“, entfährt es am Telefon Rainer Wendt, dem Haudegen unter den Polizeigewerkschaftern. Betonpoller? „Das würde ja eine ganze Stadt lahmlegen.“ Andere Fachleute geben zu bedenken, Zufahrten müssten für Rettungsfahrzeuge frei bleiben, aber auch damit Menschen bei einer Panik einen Ort schnell verlassen können. Wenn Poller, dann allenfalls mobile.

Es gibt in Grenzsituationen diese Sehnsucht, die Wendt wie de Maizière so vertraut wie suspekt ist: Die Sehnsucht nach einfachen Antworten. Mehr Polizisten! Größere Befugnisse! Härtere Strafen! Und Poller.

Alles ziemlich ausgereizt, zumindest beim Bund. Die zuletzt genehmigten Stellen sind noch nicht besetzt. Die Anwärter bei der Polizei werden drei Jahre zur Ausbildung benötigen. Es gibt keine schnellen Lösungen. Vielleicht könne man die Telekommunikation noch besser überwachen, direkt die Knotenpunkte im Internet anzapfen, überlegt Wendt. Viel mehr fällt ihm nicht ein.

An Hinweisen auf Anschläge mangelte es nicht. Zuletzt war das Aufkommen größer denn je, heißt es in Sicherheitskreisen. „Ich mache mir Sorgen“, verrät der Chef einer der obersten Sicherheitsbehörden, als er seinen Gast verabschiedet. Die Szene spielte sich erst vor zwei Wochen ab. Sie haben es kommen sehen und nicht verhindern können, trotz auffällig vieler Anti-Terror-Razzien. Das ist die Wahrheit, aber die falsche Botschaft. Lieber verkündet der Innenminister: „Die Öffentlichkeit kann sich darauf verlassen, dass die zuständigen Sicherheitsbehörden nicht rasten und nicht ruhen werden, bis vollständige Klarheit über die Hintergründe dieser Tat besteht.“ Dann fügt er noch hinzu: „Ich persönlich werde nicht ruhen, bis der oder die Täter gefunden und einer gerechten und harten Strafe zugeführt worden sind.“ Großes Minister-Ehrenwort.

Horst Seehofer wird es nicht reichen. Am Dienstag tagt, wie üblich, das bayrische Kabinett. Die Minister stehen stramm und stumm vor ihren Sesseln, gedenken der Opfer des Anschlags, dann ertönt die Stimme ihres Ministerpräsidenten: „Wir sind es den Opfern, den Betroffenen und der gesamten Bevölkerung schuldig, dass wir unsere gesamte Zuwanderungs- und Sicherheitspolitik überdenken und neu justieren.“ Zu dem Zeitpunkt muss er davon ausgehen, dass der Täter ein Flüchtling ist. Seehofer ist zum Sprung bereit, entschlossen, in den politischen Nahkampf überzugehen.

De Maizière weicht zurück. Die Zurückhaltung ist sein Naturell, an diesem Dienstag auch sein Schutzschild. „Heute ist nicht der Tag, um über Konsequenzen zu sprechen“, sagt der Minister. Wie Seehofer denkt auch er an die Toten, an die vielen Verletzten des Anschlags, aber de Maizière zieht einen anderen Schluss: Schweigen. Für ihn ist es eine Frage der Pietät wie der Vorsicht. Er werde auf alle Fragen nach Seehofer antworten, wenn man Näheres, Genaues über die Ermittlungen wisse. Der Innenminister hat damit nur Zeit gewonnen, aber eine Schwachstelle kann er nicht verdecken. Seit dem Sommer 2015 ist die Flüchtlingspolitik der wunde Punkt der Bundesregierung: Jeder Gewaltausbruch, jeder Anschlag, hinter dem Zuwanderer vermutet werden, könnte ihre Legitimation infrage stellen. Und damit Merkel.