Brüssel/Istanbul.

Mit Razzien und Verhaftungen reagiert die türkische Regierung auf die Terroranschläge von Istanbul, bei denen 44 Menschen getötet und 155 verletzt wurden. Zu dem Massaker hat sich die Terrorgruppe „Freiheitsfalken Kurdistans“ (TAK) bekannt. Die Identität der vermutlich zwei Selbstmordattentäter und ihrer Hintermänner ist weiterhin unklar.

Am Montag wurden mindestens 235 Funktionäre der prokurdischen Partei HDP festgenommen. Ihnen werden Verbindungen zur in der Türkei verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zur Last gelegt. Ankara sieht die TAK als terroristischen Arm der Partei, was beide Seiten jedoch bestreiten. Einer der Schauplätze der Razzien war das südtürkische Adana, wo vor dem HDP-Büro 500 Polizisten mit Panzerfahrzeugen anrückten. Bereits in den vergangenen Monaten hatte Staatschef Recep Tayyip Erdogan Hunderte HDP-Politiker in Haft nehmen lassen.

Am Sonntagabend flog die Luftwaffe Angriffe auf mutmaßliche PKK-Stellungen im Nordirak. Dort hat die Organisation seit 1999 ihr Hauptquartier und Trainingslager. Zwölf Ziele seien laut den Streitkräften zerstört worden.

Wie die Razzien gegen Kurdenpolitiker gehören solche Luftangriffe zu den reflexartigen Reaktionen der Regierung auf kurdische Anschläge. Innenminister Süleyman Soylu drohte der PKK mit „massiver Zerstörung, wie sie es sich gar nicht vorstellen kann“.

In Brüssel streiten die europäischen Außenminister über den Umgang mit dem Beitrittskandidaten Türkei, der unter Erdogan weit vom Kurs Richtung EU abgekommen ist. „Es braucht zumindest ein Einfrieren der Beitrittsverhandlungen“, sagt Österreichs Außenminister Sebastian Kurz. Der Luxemburger Jean Asselborn entgegnet: „Helfen wir dem türkischen Volk – und es sind viele Millionen, die auf die EU setzen – wenn wir abbrechen? Nein!“

Es ist eine kuriose Diskussion. Seit 2005 verhandeln die EU und die Regierung in Ankara über den Beitritt. Die Gespräche treten seit Langem auf der Stelle. Im Sommer gab es im Zuge des Flüchtlingsdeals noch einen kleinen Schritt vorwärts: Es wurde ein weiterer der 35 Bereiche des EU-Rechts in Angriff genommen, die die Türkei übernehmen muss. Doch bei 19 dieser „Kapitel“ hat sich noch überhaupt nichts getan. Und seit dem Putschversuch in der Türkei im Juli sind die Verhandlungen bis auf sporadische Treffen nachgeordneter Beamter zum Erliegen gekommen.

Insofern würde die förmliche Aussetzung der Gespräche, wie sie das EU-Parlament fordert, praktisch wenig ändern. Politisch wäre sie allerdings ein herbes Signal. Erdogan könnte es als weiteres Zeichen der europäischen Zurückweisung ausnutzen.

Die Bundesregierung teilt mit der Mehrheit der EU-Partner die Auffassung, dass die Europäische Union die Kritik an Erdogans Kurs verschärfen, aber keinen Verhandlungsstopp verkünden sollte. Das sei auch die Linie der türkischen Opposition, erklärt Außenminister Frank-Walter Steinmeier.

Dass man in den Türken einen Nato-Verbündeten und Partner in der Migrationspolitik habe, dürfe in dieser Frage keine Rolle spielen, entgegnet der Österreicher Kurz. Mehrheitsfähig ist diese Meinung nicht. Nur die Niederländer, Bulgaren und Belgier denken ähnlich. Bei den Beratungen dieser Woche ist aber Einstimmigkeit nötig. Diplomaten rechnen daher damit, dass der Gipfel der Staats- und Regierungschef am Donnerstag harte Worte findet, die Verhandlungen aber nicht einfriert.