Catania/Pozzallo. Im Oktober erreichten 27.500 Flüchtlinge Italiens Küste – doppelt so viele wie im Vormonat. Ein Abendblatt-Reporter sah sich in Catania um

1000 Menschen hatten überlebt. Sie hockten an Deck auf den Holzplanken der „Siem Pilot“, dicht an dicht, Frauen und Männer getrennt. Ihre Schultern in Decken gewickelt, erstversorgt mit Trinkwasser und Energieriegel: Seenotrettung aus sinkenden Schlauchbooten – wiederkehrende Dramen auf dem Mittelmeer. Nur zwei Männer fielen Frontex-Kommandant Pal Erik Teigen an diesem Tag auf. Denn sie trugen Schuhe.

Ein Zufall? Unachtsamkeit? Schleuser? Der norwegische Polizist meldete die beiden später den italienischen Kollegen. Sonst steigen an der libyschen Küste immer alle barfuß in die wackeligen Boote der Schlepper, auf ihrer Flucht über das Meer, 500 Kilometer bis Sizilien. Niemand trägt Schuhe. „Die Metallschnallen oder Sohlen könnten das Gummi zerreißen“, sagt Teigen. Und das Boot sinkt. „So schäbig ist die Qualität mittlerweile.“ Die Sache mit den Schuhen ist eine der Geschichten, die selten von Bord der „Siem Pilot“ im Hafen von Sizilien in die Welt dringen. Aber es sind Geschichten, die Kommandant Teigen mit nach Hause nehmen wird, wenn seine Zeit bei der Frontex-Mission im Mittelmeer bald beendet ist.

Jetzt liegt sein Schiff ruhig im Hafen von Catania, der zweitgrößten Stadt der Insel. Aber Ruhe ist auf Sizilien nicht. Eher Alarm. Laut der EU-Grenzschutzagentur erreichten 27.500 Flüchtlinge die italienische Küste im Oktober – doppelt so viele wie im Monat zuvor. Noch nie zählte Frontex mehr. 2016 brachten Schiffe bereits 160.000 Geflüchtete aus der Seenot nach Italien.

Mehr als 4000 Menschen starben 2016 auf dem Mittelmeer. Die „Siem Pilot“ war vor der EU-Mission als Versorgungsschiff in der norwegischen Ölindustrie eingesetzt. Jetzt patrouillieren Polizisten mit dem Schiff vor Italien. An Deck steht ein Kühlcontainer für die Leichen, die sie aus dem Wasser ziehen.

Rahwa will nach Deutschland. „Germany good“, sagt sie

Am Pier legt an diesem Novembermittwoch ein Schiff der italienischen Küstenwache an. Männer steigen nach und nach über die Gangway, auch sie eingehüllt in Decken. Sie kommen aus Staaten wie Sudan, Nigeria oder Gambia. Viele tragen Pullover und lila Badelatschen, die Helfer verteilt haben.

Die Migranten am Pier reihen sich in eine Schlange ein, durchlaufen Stationen wie Autos in einer Waschanlage. Italienische Beamte fotografieren ihre Gesichter, scannen ihre Fingerabdrücke, das Rote Kreuz checkt ihre Gesundheit. Frontex-Leute helfen; auch Polizisten aus Deutschland, Österreich und England sind als EU-Beamte hierher entsandt. Sie befragen die Migranten nach ihren Kontakten zu Schleusern. Dann fahren die Menschen in Bussen in Richtung Hotspot.

Wenig funktioniert bisher bei der Lösung der Fluchtkrise in Europa. Es herrschte Willkür an den Außengrenzen, viele Menschen sterben, es regiert mehr Zwist als gemeinschaftliche Asylpolitik. Doch an diesem Morgen auf Sizilien tröpfelt Nieselregen auf einen geordneten Abtransport der 452 Geretteten – 287 Männer, 23 Frauen, 142 Minderjährige, von denen 127 allein geflohen sind. Mehr als 800.000 Menschen legten 2015 in Gummibooten auf den griechischen Inseln an. Das Land erhielt 350 Millionen Euro Soforthilfe von der EU. Erst ein Deal mit dem türkischen Präsidenten Erdogan drückte die Zahl neuer Flüchtlinge nach unten. 3000 waren es noch im Oktober 2016 in Griechenland. Italien erhielt 24 Millionen Euro an schneller Hilfe. Doch die Behörden rechnen damit, dass wie in Griechenland jedes Jahr Zehntausende Geflüchtete bleiben werden.

Rahwa aber will lieber nach Deutschland. „Germany good“, sagt sie. Das 17 Jahre alte Mädchen aus Eritrea schlendert mit ihren drei Freundinnen die Promenade von Pozzallo lang, ein Hafenstädtchen im Süden Siziliens – vor ihnen liegt das Meer, auf dem sie vor drei Wochen in einem Holzkutter mit 800 anderen Migranten aus Libyen abgelegt haben. Vier Stunden fuhren sie auf dem Wasser, dann habe sie die italienische Küstenwache aufgegabelt und nach Sizilien gebracht. An Land beginnen Theorie und Praxis der EU-Asylpolitik. Die Theorie: Alle Flüchtlinge werden registriert, ihre Namen erfasst, Fingerabdrücke in nationale und EU-Datenbanken eingespeist. Laut EU speichert Italien bereits die Daten von 90 Prozent aller neuen Migranten, nur eine Minderheit rutscht noch unbemerkt durch. Zumindest bei der ersten Registrierung.

Im Hotspot entscheiden Beamte, wer gute Chancen auf Asyl hat und wer nicht. Dann gibt es mehrere Wege: Asylantrag in der EU – doch bei den meisten Afrikanern sind die Anerkennungsquoten gering. Laut Hilfsorganisationen wie Oxfam werden Migranten aus Marokko oder Algerien unmittelbar abgewiesen. Andere legen Widerspruch ein. Jeder hat das Recht auf ein solches Verfahren, in dem der Fluchtgrund noch einmal geprüft wird. Bloß dauert das Monate, manchmal ein Jahr, bis ein Fall entschieden ist. Solange leben die Menschen in den Auffanglagern. Im September lag vor Verwaltungsgerichten in den EU-Staaten mehr als eine Million dieser Widerspruchsverfahren gegen abgelehnte Asylanträge.

Die Migranten können einen Antrag auf Familienzusammenführung stellen, oder sich für das Umverteilungsprogramm der EU melden. Vor allem Kinder genießen besonderen Schutz. Nur: Teilnehmen dürfen ausschließlich Menschen, die aus Ländern kommen, bei denen die Anerkennungsquote für Asyl bei mehr als 75 Prozent liegt. Sudanesen fallen trotz Diktator al-Baschir raus, auch Afghanen trotz Taliban-Terror, Ghanaer, Nigerianer oder Marokkaner sowieso. Syrer dagegen zählen dazu, auch Eritreer und Menschen aus Bahrain, Jemen und Mozambique – Krisenstaaten nach EU-Definition.

In der Theorie will die EU mit diesem Programm 160.000 Kriegsflüchtlinge aus Italien und Griechenland in andere EU-Länder umsiedeln. Nur: Außer Finnland, Frankreich und die Niederlande sind die Aufnahmequoten nicht annähernd erfüllt – auch von Deutschland nicht. Mickrige 7007 Menschen sind verteilt – EU-weit. Die Massen stauen sich in Lagern wie in Sizilien.

In der Praxis bedeutet das für Rahwa aus Eritrea, dass sie schon seit drei Wochen im Hotspot von Pazzallo lebt, denn die Einrichtungen für geflüchtete Kinder in Italien sind überfüllt. Sie schläft in einer umgebauten Lagerhalle mit anderen Kindern, Männern und Frauen. In der Praxis trifft man Menschen wie Mohammed, der abends an einer Straßenecke von Catania einen kleinen Holztisch aufgebaut hat und Schuhe verkauft. Der Mann aus Senegal lebt seit drei Jahren ohne Papiere auf Sizilien. Und Tausende tauchen ganz ab, weil sie weder vor noch zurück können oder wollen. Weil sie keine Hoffnung haben, als Schutzsuchende anerkannt zu werden.

„Vor allem Jugendliche stehen vor dem Risiko, dass sie auf ihrer Flucht an kriminelle Banden geraten“, erzählt Giovanna di Benedetto, eine Helferin der Organisation Save The Children. Ein Bericht nennt sie die „kleinen unsichtbaren Sklaven“, Opfer von Menschenhändlern, Zuhältern oder Bettlergruppen etwa in Rom. „Wir brauchen gerade für die Kinder legale Wege nach Europa“, sagt di Benedetto.

Auf Sizilien zeigt sich, wie Europa eine Krise verwaltet. Besser als noch vor einem Jahr – doch noch immer ohne Lösung. Abkommen mit afrikanischen Staaten wie Tunesien nach dem Vorbild Türkei sollen helfen: Geld der EU für menschenwürdige Versorgung der Migranten.

Auch EU-Hotspots in Afrika stehen zur Debatte, in denen Migranten von dort aus Asyl für Europa beantragen. Manche Politiker mutmaßen, dass die umfangreichen Rettungsmissionen vor der libyschen Küste das Geschäft der Schleuser ankurbeln. Bis ein Schiff kommt und die Migranten nach Europa transportiert, dauert es oft nur noch ein paar Stunden auf See. Das erhöht die Chancen selbst in brüchigen Schlauchbooten.

Der Kommandeur Fabrizio Colombo von der italienischen Küstenwache zeigt Videos von den Bergungen, Action-Bilder unterlegt mit Hollywood-Musik. Menschen klammern sich an Rettungsringe oder Taue, andere schwimmen neben sinkenden Booten den Tauchern entgegen. Tote Körper treiben auf Pressholz-Brettern. Colombo ist davon überzeugt, dass die Operationen richtig sind. Schon vor den ersten Missionen schickten Schleuser Migranten aufs Meer. Es sei außerdem Pflicht eines jeden Seefahrers, Menschen in Not zu retten. Dann überlegt er noch einen Moment und sagt: „Was wäre denn auch die Alternative?“