Washington. Die E-Mail-Affäre hat Hillary Clinton schwer geschadet. Donald Trump konnte aufholen. Jetzt lösen sich alle Vorwürfe in Luft auf

Als James Comey vor elf Tagen Hillary Clintons E-Mail-Affäre überraschend aus der Versenkung holte, bekam sich Donald Trump vor Lobpreisungen für den Chef der amerikanischen Bundespolizei gar nicht mehr ein. „Großartig“ und „absolut couragiert“ sei die Entscheidung, so kurz vor der Wahl der „Gerechtigkeit doch noch zu ihrem Recht zu verhelfen“, sagte der republikanische Präsidentschaftskandidat. Man gewann das Gefühl, Trump würde Comey am liebsten adoptieren.

Die einseitige Liebe ist schnell verflogen. Seit Comey am Sonntag die Rolle rückwärts eingeleitet und die umstrittenen Untersuchungen gegen die Demokratin unmittelbar vor dem Wahltag am heutigen Dienstag zu den Akten gelegt hat, schäumt der Milliardär.

Nie und nimmer sei es möglich, in so kurzer Zeit 650.000 E-Mails sorgfältig auf Gesetzesverstöße hin zu untersuchen, polterte Trump an mehreren Rednerpulten am Sonntagabend. Besagte Datenmenge soll Stein des Anstoßes gewesen sein. Trumps Erklärung für das schnelle Ermittlungsende kam nicht überraschend. Clinton werde von einem „manipulierten System geschützt“. Anhängern in der Stadt Sterling Hights im Bundesstaat Michigan rief er sichtlich verärgert zu: „Hillary Clinton ist schuldig, sie weiß es, das FBI weiß es, die Leute wissen es.“

Der 70-Jährige hatte sich durch das Aufwärmen der Affäre um Clintons laxen Umgang mit digitaler Post in ihrer Zeit als Außenministerin politischen Rückenwind auf den letzten Metern erhofft. Mit Comeys Mitteilung von gestern kam nun abrupt die Flaute. Trumps brachiale Botschaft lautet trotzdem: „Gegen Hillary Clinton wird lange Zeit ermittelt werden wegen ihrer vielen Verbrechen gegen unsere Nation, unser Volk und unsere Demokratie.“

Zieht man Comeys jüngsten Brief an den Kongress zu Rate, tauchen Zweifel an dieser Darstellung auf. Laut FBI hat die Durchsicht der E-Mails, die nach Angaben von Computerexperten mittels Schlüsselwörtern sehr wohl binnen acht Tagen hinreichend geprüft werden konnten, nichts Neues ergeben. Es bleibt dabei, was Comey schon im Juli zum Abschluss einer mehrmonatigen Untersuchung gesagt hatte: Clintons Umgang mit vertraulichen Informationen auf ihrem Rechner sei „extrem fahrlässig gewesen“ und habe allen Regeln für Staatsbedienstete widersprochen. Aber für eine Anklage reiche es mangels Beweisen für ein vorsätzliches Verhalten nicht. Bis zum 28. Oktober war das Stand der Dinge – zum Leidwesen von Trump und vieler Republikaner, die Clinton seit Langem hinter Gittern sehen wollten. Der Skandal, der seit 20 Monaten den Wahlkampf beherrscht und in erster Linie für Clintons miserabel Werte in puncto Vertrauenswürdigkeit verantwortlich ist, schien ausgestanden.

Dann grub Comey die Sache wieder aus. Neue E-Mails seien aufgetaucht, die möglicherweise „relevant“ seien, schrieb er an den Kongress. Dabei ging es um Daten, die auf einem Laptop des demokratischen Ex-Kongressabgeordneten Anthony Weiner entdeckt wurden, dem Noch-Ehemann von Clintons engster Beraterin Huma Abendin. Gegen Weiner ist das FBI am Zug, weil er Sexmitteilungen an eine Minderjährige verschickt hat.

Aus dieser Gemengelage strickte Trumps Kampagne ein „übles Gebräu“ (Magazin „Politico“) und ging, obwohl keine gesicherten Erkenntnisse vorlagen, damit Tag für Tag in den Wahlkampf. Resultat: Clintons komfortabler Vorsprung aus dem Frühherbst auf Trump schmolz dahin. Die Demokraten witterten eine Verschwörung. Comey steht den Republikanern nahe. Hat er die gerade in Wahlkampfzeiten zu besonderer Neutralität verpflichtete Behörde als politische Waffe eingesetzt?

„Niemals“, sagen Vertraute des Zwei-Meter-Mannes, „James Comey ist unbestechlich und aufrichtig.“ Gleichwohl wuchs in der vergangenen Woche der Druck. Das Justizministerium zog seine schützende Hand über Comey zurück. Die Demokraten pochten auf Aufklärung. Jetzt ist sie da. Laut Comey haben FBI-Experten „Tag und Nacht“ gearbeitet. Ergebnis: wie gehabt. „Es gibt keinen Anlass für strafrechtliche Schritte.“ Clinton erfuhr davon auf dem Flug von Philadelphia nach Cleveland – und schwieg. Eine Sprecherin erklärte, man habe nichts anderes erwartet.

Die Intervention wird ein politisches Nachspiel haben

Alle Beteiligten wissen, dass die Intervention Comeys auf der Zielgeraden des Wahlkampfs ein Nachspiel haben wird, das den 55-Jährigen den Job kosten kann. Er allein hatte gegen den Rat des Justizministeriums dafür gesorgt, dass die E-Mails von Clinton wieder zum wichtigsten Thema im Wahlkampf wurden. Acht Tage lang haben Millionen Amerikaner, die vorzeitig wählen gingen, ihr Kreuzchen unter dem Eindruck gemacht, dass das FBI Material gegen Clinton in der Hand haben muss.

Comeys zügiger Abschluss der E-Mail-Saga lässt den Chef der wichtigsten Polizeibehörde jetzt „als Windbeutel erscheinen, der erst Alarm schlägt und dann April, April ruft“, schreiben Kritiker in Internetforen. „Das Vorgehen ist sehr beunruhigend“, sagt die einflussreiche demokratische Senatorin Dianne Feinstein. Aus ihrem Umfeld ist zu hören, dass durch Comeys Verhalten das FBI in den politischen Grabenkampf zwischen Trump und Clinton gezogen worden sei. „Da gehört es niemals hin.“

Ob mit der Last-Minute-Entlastung für Clinton die Chancen heute auf einen Sieg gestiegen sind, kann niemand verlässlich sagen. Sie geht mit einem minimalen Vorsprung von durchschnittlich drei Prozent in den Wahltag.