Hamburg. Die Terrormiliz wehrt sich mit Tunneln gegen die Einnahme von Mossul. Minenentschärfer wie Sait Cürükkaya bezahlen das mit ihrem Leben

Es war seine letzte Mission. Am Mittwochnachmittag vor einer Woche stieg Sait Cürükkaya im nordirakischen Dorf Faziliye in einen Tunnel, um dort Bomben zu entschärfen. Das hatte der Mann, den sie alle Doktor Süleiman nennen, zuvor schon hundertfach getan. Es war eine Falle. Kämpfer der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) zündeten eine der Bomben. Sait Cürükkaya wurde schwer verletzt, an Kopf und Oberkörper. Er überlebte das Attentat, aber nur wenige Tage. Am Sonnabend erlag Cürükkaya im Bundeswehrkrankenhaus in Koblenz seinen Verletzungen.

Auf den ersten Blick scheint der Vormarsch kurdischer und irakischer Truppen auf die Millionenmetropole Mossul zügig voranzugehen. Eliteeinheiten sind bereits in die Stadt eingedrungen, die seit Sommer 2014 in der Hand des IS ist. Dutzende Dörfer und kleinere Städte sind zurückerobert worden. Doch in den vergangenen zweieinhalb Jahren haben sich die Dschihadisten akribisch auf diese Offensive vorbereitet. Sie haben komplexe Tunnelsysteme gegraben – und sie haben überall Minen gelegt und Sprengfallen angebracht.

131 Mitarbeiter starben beider Entschärfung der Minen

Das fordert Opfer, immer wieder. Opfer wie Sait Cürükkaya. Seit 2014 hat die kurdische Minenentschärfungsagentur IKMAA 131 ihrer Mitarbeiter verloren, auch Soldaten sterben regelmäßig. Mindestens 15 schiitische Milizionäre kamen allein Dienstagnacht bei ihrem Vorstoß im Westen Mossuls ums Leben, als sie in Sprengfallen liefen. Jeder Schritt kann lebensgefährlich sein.

Die Islamisten sind auf grausame Art kreativ. Sie platzieren ihre selbstgebauten Bomben am Straßenrand, unter Trümmern, in Häusern, in Fernsehern, den Spülkästen von Toiletten, sogar in Spielzeug. „Jeder Ort, in dem der IS war, ist ein gefährlicher Ort“, sagt IKMAA-Chef Mohammed Ahmed Ismail. Sait Cürükkaya hatte am vergangenen Dienstag – einen Tag, bevor er in den Tunnel in Faziliye stieg – auf seiner Facebook-Seite geschrieben: „Der IS kämpft nicht nur mit Gewehren und Raketen, sondern mit Bomben, Minen und Sprengfallen. Die Kurden verfügen nicht über ausreichende Ausbildung, um diese Bomben und Minen zu entschärfen.“

Immer wieder hat Cürükkaya dieses Problem angesprochen, seit er sich im Sommer 2014 entschied, das angenehme Leben als Unternehmer in Hamburg aufzugeben und gegen den IS zu kämpfen, auf seine Weise. Cürükkaya, 1968 im türkischen Bingöl geboren, war immer ein politischer Mensch.

In den 90er-Jahren brach er sein Medizinstudium ab und kämpfte für die verbotene türkische Arbeiterpartei PKK, war ein Kommandant. Dann überwarfen er und sein Bruder sich mit der Partei und ihrem Führer Abdullah Öcalan. Sie wurden mit dem Tod bedroht, mussten fliehen.

2001 kam Cürükkaya nach Deutschland. Er studierte in Bremen Sozialwissenschaften. Später machte er sich in Hamburg selbstständig, betrieb eine Wäscherei. „Er hat sich immer für die Belange der Kurden eingesetzt, aber auch für die Integration von Kurden in Deutschland“, erzählt ein langjähriger Weggefährte. Im Sommer 2014, als der IS die kurdischen Gebiete im Nordirak angriff, als die Dschihadisten die Sindschar-Region überrannten und ihre jesidischen Bewohner vertrieben, ermordeten und versklavten, machte sich Cürükkaya auf den Weg.

Im irakischen Kurdistan setzte er um, was er in den türkisch-kurdischen Bergen gelernt hatte: Er baute ein Freiwilligenteam von Minenräumern auf, schulte Hunderte kurdische Peschmerga, entschärfte selbst Tausende Sprengkörper. Doktor Süleiman nannten sie ihn respektvoll. Doktor, weil er einst Medizin studiert hatte, Süleiman war sein Aliasname zu PKK-Zeiten. „Doktor Süleiman war ein Mann, der menschliches Leben schützen und ihm dienen wollte“, sagt Mohammed Ahmed Ismail, „er war ein sehr guter Freiwilliger für die Peschmerga, aber auch für die Zivilisten.“ Für Zivilisten sind die Sprengfallen und Minen eine besondere Bedrohung. Viele Binnenflüchtlinge kehren jetzt zurück, um in den Trümmern der befreiten Dörfer und Städte zumindest ihre Habseligkeiten zusammenklauben zu können. In jedem Bündel Kleidung kann ein Sprengsatz stecken, hinter Bildern, unter Betten, in Glühbirnen.

Die auf Minenentschärfung spezialisierte UN-Organisation UNMAS hat allein in der zentralirakischen Provinz Anbar in der ersten Jahreshälfte fast 400 Zwischenfälle gezählt, in denen bei Explosionen Menschen verletzt wurden oder ums Leben kamen. Kinder sind nicht so vorsichtig wie Soldaten. Wenn sie ein Spielzeugauto sehen oder einen Teddy, dann greifen sie danach.

Sowohl UNMAS, unterstützt von Deutschland als größter Gebernation mit fünf Millionen Euro, als auch die kurdische IKMAA warnen eindringlich, dass es zurzeit viel zu wenige Experten in der Region gibt, um die tödlichen Hinterlassenschaften des IS zu beseitigen und den Binnenflüchtlingen eine sichere Rückkehr in ihre Dörfer und Städte zu ermöglichen.

Es sind zwar einige spezialisierte Nichtregierungsorganisationen im Irak aktiv, aber das reicht bei Weitem nicht aus. Auch nicht das bisherige Training, das beispielsweise die Bundeswehr in der irakischen Kurdenhauptstadt Erbil durchführt. Dort werden den kurdischen Peschmerga allenfalls Grundkenntnisse bei der Minenräumung beigebracht.

In Sindschar, der einstigen Jesidenhochburg im Nordwesten des Iraks, hat sich gezeigt, wie lange es mit den jetzt vorhandenen Fähigkeiten und Experten dauert, bis eine Stadt gesäubert ist. Sindschar wurde im November 2015 befreit, die frühere 80.000-Einwohnerstadt ist eine nahezu menschenleere Trümmerwüste. Erst vor Kurzem erklärten die Peschmerga, die Stadt sei sicher, einigermaßen jedenfalls.

Gepanzerte Bagger überrollten bombenverseuchte Häuser

Minen- und Sprengfallenräumung führten sie dort teils mit brachialen Mitteln durch. Sie benutzten schwer gepanzerte Bagger, mit denen sie bombenverseuchte Häuser einfach überrollten. Auf diese Weise wurden die Sprengfallen zur Explosion gebracht. In weniger zerstörten Siedlungen ist ein so rabiates Vorgehen nicht denkbar. Bis die mehr als drei Millionen Binnenflüchtlinge im Irak in ihre Heimatstädte und -dörfer zurückkehren können, werden Monate, wenn nicht Jahre vergehen. Es sei denn, die internationale Hilfe wird verstärkt.

Sait Cürükkaya schrieb in seinem letzten Facebook-Eintrag: „Die Koalitionsmächte, die sich nicht mit Bodentruppen an der Operation beteiligen, müssen zumindest dringend Minen- und Bombenexperten entsenden. Die Kurden sind auf Expertenteams in dieser Frage angewiesen. Der Erfolg in Mossul wird hiervon abhängen.“ Es ist sein Vermächtnis.