Reykjavik/Berlin .

Für eine Frau, die gerade Islands Politik aufmischt, wirkt Birgitta Jonsdottir erstaunlich unspektakulär. Sie trägt flattrige Kleider, hat schwarzes Haar mit Pony, einen blassen Teint. Die Spitzenkandidatin der Piratenpartei ist Internetaktivistin und Dichterin. Und sie redet unverblümt in aller Öffentlichkeit, sie habe „bis hierher ein extrem anstrengendes Leben“ gehabt. Mittlerweile weiß fast jeder der gut 330.000 Isländer, dass die 49-Jährige eine ganze Serie von Schicksalsschlägen wegstecken musste. Erst starb die Tante, an der sie sehr hing, dann der Stiefvater, der sich ertränkte, am Schluss der Ehemann.

Der offene Umgang mit ihrer Biografie, das nicht Glattgebügelte und manchmal auch Amateurhafte sind wohl ein Grund dafür, warum Jonsdottir auf der Insel im Nordatlantik so beliebt ist. Die Piraten sind nach den letzten Umfragen mit rund 20 Prozent die zweitstärkste Partei. Die konservative Unabhängigkeitspartei liegt mit knapp 22 Prozent auf Platz eins. Gut möglich, dass die Piraten nach der Wahl am heutigen Sonnabend eine Koalitionsregierung anführen – mit der Premierministerin Jonsdottir. Eine bemerkenswerte Entwicklung für eine Partei, die Jonsdottir vor nur vier Jahren mitgegründet hat. Ihre Forderungen kommen bei vielen an: Sie machen sich nicht nur für eine bessere Finanzierung der chronisch klammen Krankenhäuser stark. Sie wollen mehr Volksabstimmungen, mehr digitale Demokratie, Datenschutz und Transparenz in der Verwaltung.

Vor allem ist es aber das weit verbreitete Misstrauen gegenüber der politischen Elite, das den Piraten Auftrieb gibt. Die Folgen der Finanzkrise 2008 hallen noch heute nach. Damals hatten sich die drei größten isländischen Banken derart verzockt, dass die Insel an den Rand eines Staatsbankrotts geriet. Im April enthüllten die Panama Papers, dass der Regierungschef und drei Minister Offshore-Vermögen verschwiegen hatten. Mehrere Tausend Menschen versammelten sich zum größten Protest der isländischen Geschichte, warfen Bananen und Eier gegen das Parlamentsgebäude. Der Premierminister der Konservativen stellte sich erst stur und trat dann doch zurück. Die Demonstranten setzten immerhin die am Sonnabend stattfindenden Neuwahlen durch.

Der Vorwurf von Vetternwirtschaft und Korruption schlug der politischen Klasse allenthalben entgegen. „Tatsächlich fühlen sich Islands Wähler seit der Finanzkrise und der Verwicklung der derzeitigen bürgerlichen Regierung in den Panama-Skandal nicht mehr an die traditionelle Parteienlandschaft gebunden, alle vier etablierten Parteien haben sie enttäuscht“, sagt die Politologin Heida Önnudottir von der Universität Island dieser Redaktion.

Der einzige Grund, warum die Piraten nicht mit einem Durchmarsch rechnen können, liegt wohl an der stabilen wirtschaftlichen Entwicklung. Die Konjunktur läuft, die Arbeitslosenrate ist mit 2,9 Prozent die niedrigste in ganz Europa. Inzwischen braucht die Insel zusätzliche Arbeitskräfte aus Osteuropa. Auf diese positive Stimmung setzen die Konservativen.