Berlin. Die Bundesregierung gibt Millionen für die Prävention aus. Doch noch weiß niemand genau, was wirklich gegen Islamismus hilft

Am Anfang steht die Scheidung der Eltern. Oder der Schulabbruch, vielleicht auch der Jobverlust oder Drogen. Krisen oder Sinnsuche sind häufig der Beginn einer Radikalisierung von Jugendlichen. So erzählen es Helfer, Eltern – und die Islamisten selbst. 20 Millionen Euro hat das Familienministerium in den vergangenen zwei Jahren in den Kampf gegen den Salafismus investiert, zwölf Millionen Euro gibt das Innenministerium allein 2016 aus, Millionen von den Ländern für Präventionsprojekte vor Ort kommen dazu. Der Staat verteilt das Geld mit der Gießkanne – weit mehr als 100 Modellprojekte zur Förderung von Demokratie und gegen Extremismus sind in Deutschland entstanden. Man kann der Regierung nicht vorwerfen, sie würde tatenlos der Propaganda der Islamisten auf Straßen oder im Internet zuschauen. Nur hilft das? Kommt das rechtzeitig?

Diese Redaktion hat mit mehreren Initiativen gesprochen, die mit Jugendlichen arbeiten. Sozialarbeiter, Pädagogen oder Islamwissenschaftler sagen: So viel Geld für Prävention gab es noch nie. So viel, dass oft das größere Problem ist, für ausgeschriebene Stellen qualifizierte Mitarbeiter zu finden, etwa Pädagogen, die Arabisch oder Farsi sprechen.

So bitter das klingt: Der Terror von Paris hat dazu geführt, dass die Politik umgesteuert hat. Schutz vor Angriffen auf die Demokratie ist nicht mehr nur Aufgabe von Polizei oder Geheimdienst, sondern auch von Schulen, Vereinen und Moscheen. Kampf gegen Terror ist auch Sozialarbeit. „Ein funktionierendes gesellschaftliches Frühwarnsystem hilft mehr als die Androhung von Strafen“, sagt Integrationsministerin Aydan Özoguz (SPD) dieser Redaktion. „In einer Zeit, in der die Hasskriminalität in Deutschland stetig steigt, müssen wir alle demokratischen Kräfte stärken, die sich bei der Extremismusprävention engagieren.“ Denn: Die Zahl der sogenannten Salafisten wächst, mehr als 9000 sind es schon in Deutschland.

„Salafistische Gruppen rüsten in ihrer Jugendarbeit massiv auf, sie helfen Flüchtlingen oder inhaftierten Muslimen, machen Freizeitangebote“, sagt Götz Nordbruch vom Berliner Verein Ufuq, der bundesweit Workshops für Lehrende und junge Muslime anbietet. „Darauf müssen wir reagieren.“ Doch eine einheitliche Strategie fehle bisher, kritisieren etwa die Grünen.

„Wir stehen am Anfang der Präventionsarbeit“, sagt auch André Taubert von der Hamburger Fachstelle für religiös begründete Radikalisierung Legato. „Das ist eine Chance, weil gute Konzepte entwickelt werden können.“ Das Risiko sei: „Wir probieren in etlichen Projekten ganz viel aus – und am Ende hat niemand mehr einen Überblick.“ Von „Wildwuchs“ an Präventionsprojekten sprechen andere Sozialarbeiter. Manchmal wisse die eine Initiative nicht, was eine andere in derselben Stadt mache.

Vor Jahren war das noch anders: Zwei Streetworker beackerten etliche Islamisten-Fälle in ganz Norddeutschland, einige Bundesländer investierten Millionen in den Kampf gegen rechts – und kaum etwas gegen Salafisten. Schulen weigerten sich, Fortbildungen anzubieten für ihre Lehrenden, weil sie Angst hatten, als „Problemschule“ stigmatisiert zu werden. Lange, so beklagten viele Initiativen, sei das Thema Islamismus nicht ernst genug genommen worden. „Das hat sich gewandelt“, sagt Nordbruch. Lehrende, Eltern und Jugendliche sollen nun im Kampf gegen den Islamismus schnellstens das Handwerk lernen, das im Bereich Rechts­extremismus schon seit vielen Jahren in deutschen Einrichtungen eingeübt ist.

David Aufsess vom Projekt „jamil“ des Bremer Vereins VAJA sagt aber: „Wir wissen noch gar nicht genau, wie wir ein Abgleiten ins Extreme etwa bei muslimischen Jugendlichen am besten verhindern.“ Niemand weiß bisher, welche Projekte wirken. Es fehlt an Evaluationen. Und mit den Millionen aus dem Bund kam auch die Bürokratie zu den Vereinen. Kaum eine geförderte Initiative, die nicht darüber klagt. „Das frisst Ressourcen ohne Ende“, sagt Aufsess.

Doch auch die Vereine haben Fehler gemacht. Anfangs sei man in Klassenzimmer gegangen, um Antisemitismus und Islamismus dadurch zu bekämpfen, dass man mit den Jugendlichen nur über diese Themen sprach. „Aber so läuft das nicht“, sagt Experte Nordbruch. Heute sprechen Vereine wie Ufuq oder VAJA in Schulen oder Jugendzentren auch viel über Identität, Glaube und Zugehörigkeit, über Rassismus und Frustration. Der Jugend Raum geben, statt ihnen Gedanken vorgeben – das ist eine der Losungen der Prävention, die funktionieren kann.

Auch der Terrorismus-Experte Peter Neumann vom Londoner King’s College hält diesen Ansatz für erfolgsversprechend. „Was Extremisten tun, ist keine Zauberei“, sagt er im Gespräch mit dieser Redaktion. „Sie bedienen die Bedürfnisse junger Menschen, die nach Identität, Struktur, Orientierung, Gemeinschaft und Bedeutung suchen.“

Um einem „Wildwuchs“ an Strategien entgegenzuwirken, will die Bundesregierung nun eine „Bundesarbeitsgemeinschaft“ zum religiös begründeten Extremismus ins Leben rufen. Auch Vereine wie Ufuq und VAJA sind dabei. Hier sollen sich die Initiativen austauschen, Konzepte im Kampf gegen Radikale entwickeln. Das Gründungstreffen ist laut Familienministerium für Ende November geplant. Mit einem Extremismusgesetz will die Bundesregierung zudem die Arbeit von sozialen Projekten mit den Ermittlern von Polizei und Justiz enger verzahnen. Derzeit liegt ein erster Entwurf im Kanzleramt vor.