München.

Der Evangelischen Kirche (EKD) stehen nicht nur einige besondere Tage bevor, sondern gleich ein besonderes Jahr. Ab dem Reformationstag am kommenden Montag beginnt das Lutherjahr, das am 31. Oktober 2017 mit einem bundesweiten Feiertag in Erinnerung an den Thesenanschlag des Reformators endet. Für den EKD-Ratsvorsitzenden und bayerischen Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm sind die Festlichkeiten ein Anlass, klare Anliegen an die Politik zu formulieren.

Herr Bedford-Strohm, von Ihnen stammt der Satz: „Wer fromm ist, muss auch politisch sein.“ Sind Sie Politiker?

Heinrich Bedford-Strohm: Ich bin natürlich kein Politiker. Bei dieser Aussage geht es nicht um Tagespolitik oder darum, einer bestimmten politischen Idee den Heiligenschein aufzusetzen. Nicht Politik machen, sondern Politik möglich machen, dieser Grundsatz prägt unser Engagement. In vielen politischen Fragen geht es aber um ethische Grundüberzeugungen. Wer Gott liebt und den Nächsten liebt, der kann gar nicht anders, als sich für das Wohlergehen der Menschen, und das heißt eben auch: für politische Fragen zu interessieren.

Das heißt, auf der Kanzel sollten Geistliche politisch predigen?

Die politische Privatmeinung der Pfarrerin oder des Pfarrers gehört nicht auf die Kanzel. Aber auf die Kanzel gehören all die Fragen, die die Menschen bewegen. Bei Themen wie dem Umgang mit den Ressourcen der Schöpfung, dem Alter oder Pflegebedürftigkeit sieht man, dass man darüber gar nicht nachdenken kann, ohne das Feld der praktischen und damit auch politischen Gestaltung zu berühren.

Sie gehören seit ihrer Jugend zur SPD, auch wenn Ihre Parteimitgliedschaft aufgrund des Bischofsamtes ruht. Warum sind Sie Sozialdemokrat?

Für mein Bischofsamt spielt die parteipolitische Zugehörigkeit keine Rolle. Ich bin als 17-Jähriger in die SPD eingetreten, weil ich etwas für das Gemeinwesen tun wollte. Das Thema soziale Gerechtigkeit war für mich entscheidend. Auch die Friedenspolitik Willy Brandts hat mich überzeugt. Daher war die SPD meine Option. Ich sage aber ganz deutlich: Ich denke nicht in parteipolitischen Kategorien. Ich trete vehement dafür ein, dass mehr Menschen sich in Parteien engagieren. Gerade Christen sollten in politischen Parteien mitarbeiten, um diese Welt zum Wohl der Menschen aktiv mitzugestalten. Christen können sich für eine politische Kultur engagieren, in der es strikt um die Sache geht und nicht zuerst um Parteiinteressen.

Was fehlt der derzeitigen politischen Kultur?

Zunächst möchte ich die Politiker einmal verteidigen. Man hat ja manchmal den Eindruck, als ob der Beruf des Politikers fast schon zum Schimpfwort geworden ist. Ich begegne in meinem Kontakt mit der Politik so häufig Menschen, die echte inhaltliche Anliegen haben, die sie im manchmal mühseligen Klein-Klein des politischen Alltagsgeschäftes verfolgen. Wer politisch etwas erreichen will, muss Überzeugungen haben und er muss fähig sein zu Kompromissen. Beides ist notwendig und es darf nicht pauschal schlechtgemacht werden, wie es jetzt oft passiert. Aber es muss eben erklärt werden, damit wir es verstehen können. Und wir müssen sehen und spüren, dass Menschen in der Politik ihre Überzeugungen nicht an den Machtoptionen orientieren, sondern ihren Umgang mit Macht an ihren Überzeugungen ausrichten.

Überzeugt Sie die Arbeit der großen Koalition?

Es ist als Bischof nicht meine Aufgabe, ein pauschales Urteil über eine bestimmte Regierung zu fällen. Die Entscheidung, fast 900.000 Flüchtlinge in der besonderen Situation des Jahres 2015 aufzunehmen, halte ich aber für richtig. Sie war ein überzeugender Ausdruck unserer humanitären Traditionen. Im Umgang mit der Aufnahme der Flüchtlinge haben wir im letzten Jahr alle dazugelernt. Jetzt kommt alles darauf an, dass wir die Integration beherzt angehen. Dafür engagieren sich glücklicherweise nach wie vor sehr viele Menschen.

Speist sich der Erfolg der AfD womöglich auch aus dem Eindruck, dass der Staat mit seinen gigantischen Einnahmen die falschen Prioritäten setzt?

Die sehr guten Einnahmen haben dabei geholfen, mit der Flüchtlingsfrage konstruktiv umzugehen. Zugleich haben wir ein Auseinanderklaffen von Arm und Reich. Ja, es gibt Armut in Deutschland. Darauf haben gerade wir in den Kirchen seit Langem hingewiesen. Es gibt Menschen, die Hilfe brauchen, damit sie ihren eigenen Lebensunterhalt verdienen können. Es gibt immer noch zu viele Langzeitarbeitslose und zu wenig Aufstiegschancen für die sozial Schwachen. Diese Menschen zu qualifizieren, darf nicht am Geld scheitern. In diesem Land gibt es ein privates Geldvermögen von über 5,4 Billionen Euro. Unser Land ist reich. Der Reichtum ist nur sehr ungleich verteilt.

Um Gerechtigkeit geht es auch den Menschen, die gegen die geplanten Freihandelsabkommen protestieren. Was halten Sie von Ceta und TTIP?

Freihandel darf man nicht verteufeln. Doch Welthandelsbeziehungen müssen gerecht sein. In den 90er-Jahren wurde die Liberalisierung des Welthandels fast schon zum Dogma gemacht und nicht hingesehen, wem diese Liberalisierung eigentlich nützt. Aus dem weltweiten Netzwerk der Kirchen heraus ist darauf seit Langem hingewiesen worden. Nicht zuletzt durch solche Stimmen sind wir inzwischen auch hier heute klüger und kritischer. Das ist der Grund für die teils heftigen Auseinandersetzungen um Ceta und TTIP. Es ist doch gut, dass sich Menschen, die sonst mit Wirtschaft nichts zu tun haben, für diese Fragen interessieren. Die Haltung der Kirche ist ganz klar: Freihandel muss so geregelt werden, dass ärmere Menschen und ärmere Länder Vorteile erhalten und sich wirtschaftlich entwickeln können. An dieser Frage müssen sich Ceta und TTIP am Ende messen lassen.

Die Protestanten feiern ab dem 31. Oktober das Reformationsjahr in Erinnerung an den Thesenanschlag von 1517. Welche Partei würde Martin Luther wohl heute wählen?

Martin Luther würde sicher wählen gehen, weil er politisch engagiert war. Er hat sich knallhart zu Fragen der Wirtschaftsethik geäußert und den aufkommenden Frühkapitalismus und die Geschäftspraktiken der globalen Handelsgesellschaften seiner Zeit scharf kritisiert. Er hat sich für die Armen eingesetzt, etwa für eine kommunale Armenversorgung, die man als Vorgänger des modernen Sozialstaats sehen kann. Aber er hat sich auch gegen Fürsten gewandt, die jenseits ethischer Kriterien Kriege führen.

Warum ist Luther heute noch wichtig?

Alle Reformatoren, einschließlich Luther, haben unsere heutige Kultur geprägt. Weit über Deutschland oder die Schweiz hinaus. Die Reformation ist eine Weltbürgerin. Wir brauchen heute viel mehr von dem, was Luther als Freiheit eines Christenmenschen bezeichnet hat: Wir könnten viel mehr aus der Zuversicht leben, aus der Hoffnung. Diese Welt geht eben nicht den Bach runter, sondern sie ist in Gottes Hand. Luther lehrt uns, aus solch tiefer innerer Freiheit für andere Menschen einzutreten.

Der Reformationstag ist nur in den ostdeutschen Ländern ein gesetzlicher Feiertag. Bedauern Sie das?

Ich freue mich, dass ausnahmsweise der 31. Oktober 2017 bundesweit ein gesetzlicher Feiertag ist. Das ist ein starkes und im großen Konsens erfolgtes Zeichen der Politik, dass sie die Reformation auch für die Zivilgesellschaft als ein herausragendes Ereignis würdigen möchte. Grundsätzlich ist die Feiertagskultur unseres Landes ein Thema, über das wir neu sprechen müssen. Der Buß- und Bettag ist als Feiertag in fast allen Bundesländern abgeschafft worden. Das war kurzsichtig. Sowohl der Reformationstag als auch der Buß- und Bettag sind Tage, an denen ein Land zur Besinnung kommen kann und sich fragen kann: Wie wollen wir in unserem Land zusammen leben? Welche ethischen und kulturellen Grundlagen machen uns aus? Feiertage sind enorm wichtig für die moralische und soziale Infrastruktur Deutschlands. Es wäre ein tolles Zeichen, wenn die Politik einmal nicht allein für die Ökonomie, sondern für das Miteinander der Menschen neuen Freiraum schaffen könnte.

Reformationstag oder Buß- und Bettag – welcher ist Ihnen wichtiger?

Am besten wäre es, wenn beide bundesweite Feiertage wären: Der Reformationstag und der Buß- und Bettag. Wir sollten jetzt darüber nachdenken, wie wir zumindest einen der beiden Tage zu dauerhaften Feiertagen machen können. Das würde unserem Land sehr guttun.

Sogar der Papst wird am kommenden Montag einen Gottesdienst mit den Lutheranern feiern. Glauben Sie, Franziskus könnte die Protestanten eines Tages als vollwertige Kirche anerkennen?

Ich halte überhaupt nichts von dieser Debatte. Wir sind viel weiter. Im täglichen Miteinander sind Katholiken und Protestanten Schwestern und Brüder. Beide Kirchen müssen sich vielmehr fragen, wie sie das Evangelium heute eigentlich verkünden wollen und die Liebe Gottes sichtbar machen können.