Berlin/Essen. Wie Extremisten, Kriminelle und Clans versuchen, Parallelwelten aufzubauen. Eine Herausforderung für Polizei und Politik

Als Polizisten in Mittelfranken das Recht durchsetzen wollen, bezahlt ein junger Beamter den Einsatz mit seinem Leben. Der Täter war ein selbst ernannter „Reichsbürger“. Wolfgang P. lehnt die Bundesrepublik, ihre Grenzen, die Steuern und auch ihre Gesetze ab. Er schwärmt vom Deutschen Reich. Es ist ein extremer Fall in Mittelfranken. Doch es ist kein Einzelfall. Bürgermeister in Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen beklagen, dass Vereine, Straßenfeste oder die freiwillige Feuerwehr von Neonazis unterwandert würden. In einzelnen Dörfern sind Extremisten so präsent, dass Andersdenkende bedroht werden: Es entstehen No-go-Areas.

Doch nicht nur Radikale streben nach Räumen, in denen das Recht an den Rand gedrängt wird – Orte, an denen Parallelwelten entstehen. Kriminelle Clans sind in mehreren Metropolen aktiv, auch die organisierte Drogenszene sucht sich „Freiräume“. Es gebe in Deutschland keine „rechtsfreien Räume“, sagt André Schulz, Vorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK). Er sagt aber auch: „Es gibt Orte und Milieus, die nur mit großem Aufwand und jeder Menge Polizeipersonal bewältigt werden können.“

Clans üben Selbstjustiz

Tatort Essen: Am helllichten Tag mitten in der Einkaufszone gehen drei Männer mit Fäusten und Messern aufeinander los. Mit Stichverletzungen bricht der Älteste zusammen. Ein Angriff, der wenige Stunden später gerächt wird. Als ein 21-Jähriger am Abend ein Lokal am Stadtrand verlässt, feuert ihm ein 46-Jähriger fünf Kugeln in den Körper. Seelenruhig lässt sich der Schütze später daheim festnehmen. Er guckt Fernsehen.

Libanesische Familienclans regeln im Ruhrgebiet seit Jahren ihre Angelegenheiten nach strengen, archaischen Gesetzen. Die Polizeigewerkschaft spricht längst von No-go-Areas. Es sind Mhallami-Kurden, die einst aus Südostanatolien in den Libanon flohen, von da aus in den 80er-Jahren nach Europa. Rund 6000 leben in Essen – ihr Aufenthaltsstatus in Deutschland ist oft unsicher und prekär. Während viele versuchen, sich zu integrieren, haben andere ein kriminelles Netzwerk geschaffen. Sie leben von Drogenhandel und Prostitution, Hehlerei, von Autoschieberei und Menschenhandel, von Schutzgelderpressung und Sozialhilfe-Betrug. Auch im Duisburger Norden gehen die Clans ihren illegalen Geschäften nach. Innenminister Ralf Jäger (SPD) hebt hervor: Die Polizei hat die Viertel nicht aufgegeben. Essen und Duisburg bemühen sich um Härte gegen die Kriminellen und Integrationsangebote für die anderen. Der Weg aber ist lang.

Ein Recht auf Rausch?

Tatort Berlin: Wer im Görlitzer Park Haschisch kaufen will, muss meist keine zehn Meter weit laufen. Fast flächendeckend werden Besucher in der Grünanlage im Herzen des Stadtteils Kreuzberg von Männern mit fast ausschließlich schwarzer Hautfarbe darauf angesprochen, ob sie nicht „etwas“ kaufen wollen. Hat die Polizei einfach nur kapituliert?

Im Gegenteil: Für Handel und Konsum „weicher“ Drogen gelten in dem Park sogar strengere Vorschriften als im Rest der Hauptstadt. Wer im „Görli“ mit Cannabis erwischt wird, muss mit Post von der Staatsanwaltschaft rechnen. Der Berliner Innensenator Frank Henkel (CDU) nennt das „null Toleranz“ – und schickte die Beamten so häufig in den Park, dass die Gewerkschaft der Polizei schon geklagt hat, für andere Einsätze fehle das Personal. Nur was hat es gebracht? Jede Menge Festnahmen und jede Menge Ermittlungsverfahren. Henkel sieht das als Erfolg. Der Rechtsstaat sei nicht verhandelbar, sagt er. Doch wurde kurz nach der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus bekannt, dass die Zahl der Beamten, die im Park patrouillieren, von Monat zu Monat abgenommen hat. Die Zahl der Dealer sei dagegen weiterhin „als konstant hoch einzustufen“, heißt es im kürzlich bekannt gewordenen polizeiinternen Lagebericht.

Rückzugsraum der Radikalen

Tatort Hamburg: Es ist eine unauffällige Nebenstraße im Stadtteil Harburg, in dem die Taqwa-Moschee ihre Räume hat. Seit Jahren wird das Gebetshaus von Islamisten besucht – und vom Hamburger Verfassungsschutz beobachtet. Denn hinter den verhängten Fensterscheiben predigen auch Extremisten. Im Zusammenhang mit Ausreisen von Dschihadisten in Richtung Syrien wurde die Moschee immer wieder von den Behörden genannt. So wie die Taqwa-Moschee gibt es etliche Szenetreffs in Deutschland. Sie laden hetzerische Prediger ein, locken Jugendliche in die Gemeinschaft, sammeln Geld für extremistische Organisationen. Es sind Rückzugsorte der Radikalen – sie finden sich in Berlin, Hildesheim oder Bremen.

Neonazis regieren Dörfer

Tatort Jamel: Das kleine Dorf in Mecklenburg-Vorpommern ist das, was Rechtsextreme eine „national befreite Zone“ nennen. Hier, so ihre Ideologie, regieren sie. Polizei und Justiz wissen, dass hier in der Mehrzahl der zehn Häuser und Höfe Menschen mit rechter Gesinnung leben. Auf einem Stein steht „Dorfgemeinschaft Jamel – frei, sozial, national“, ein Wegweiser aus Holz zeigt in Richtung Braunau, 855 Kilometer bis Hitlers Geburtsort. Im vergangenen Jahr brannte die Scheune eines Künstlerehepaars, Neonazi-Gegner. Es wurde Brandbeschleuniger eingesetzt. Im thüringischen Kirchheim feierten Neonazis für einen Tag ihre „national befreite Zone“. Sie veranstalteten ein Rechtsrock-Konzert. 450 Extremisten kamen zusammen – auf ganze 900 Anwohner.

Rechtsextreme und „Reichsbürger“, Terroristen und Kriminelle – der Staat kämpft derzeit an vielen Fronten. Dabei, sagt BDK-Chef Schulz, sei die Zahl der Straftaten rückläufig. „Gut die Hälfte des Schadens durch Kriminelle wird in Deutschland durch Wirtschaftskriminalität verursacht.“ Diese Taten fügen Volkswirtschaften einen immensen Schaden zu, doch das Sicherheitsgefühl der Bürger tangieren sie kaum.