Berlin.

Schmerzmittel, Blutdrucksenker, Antibiotika: Im Durchschnitt bekam jeder Deutsche im letzten Jahr Medikamente im Wert von 500 Euro verordnet. Doch wie bei allen Mittelwerten lohnt der Blick auf die tatsächliche Verteilung: Im deutschen Gesundheitswesen verursachen zehn Prozent der Patienten 80 Prozent der Kosten – weil sie schwer und mehrfach krank sind, aber auch weil ihre Ärzte oft extrem teure Medikamente verordnen. Wie der neue Arzneiverordnungsreport im Auftrag der AOK zeigt, steigen die Ausgaben für Arzneimittel seit Jahren deutlich – und haben 2015 ein neues Rekordniveau erreicht.

Hauptursache ist nach Einschätzung der Gesundheitsexperten nicht die alternde Gesellschaft, sondern die Preispolitik der Pharmaindustrie, zu lasche gesetzliche Preisbremsen und die Verordnungspraxis der Ärzte: Wie aus dem am Montag vorgestellten Report hervorgeht, zahlten die gesetzlichen Kassen im Jahr 2015 rund 36,9 Milliarden Euro für Arzneimittel. Damit seien die Kosten von 2014 auf 2015 um 1,5 Milliarden Euro gestiegen, in den letzten zwei Jahren sogar um 4,8 Milliarden Euro. Der größte Preistreiber seien die patentgeschützten Medikamente: Der Markt mit Arzneimitteln, auf die der Hersteller das Patent und damit das Monopol hat, wuchs den Angaben zufolge binnen eines Jahres um 1,3 Milliarden Euro auf 14,9 Milliarden Euro. Das sei ein Anstieg allein in diesem Segment um knapp zehn Prozent. Kosten, die sich am Ende auf die Beiträge der Versicherten auswirken können.

Um die Preisentwicklung zu begrenzen, müssen in Deutschland seit 2011 Medikamente, die neu in den Markt eingeführt werden und von den Kassen erstattet werden sollen, eine Nutzenbewertung durchlaufen. Dabei geht es um die Frage, ob das neue Präparat mehr leistet als ein vergleichbares Medikament, das bereits abgerechnet werden kann. Diese Regelung habe im letzten Jahr immerhin zu Einsparungen von rund 925 Millionen Euro geführt. „Doch diese Summe hätte noch deutlich höher ausfallen können“, sagt Ulrich Schwabe, Pharmakologe an der Universität Heidelberg und Herausgeber des Arzneiverordnungsreports. Etwa dann, wenn endlich auch die Arzneimittel im Bestandsmarkt auf ihren Nutzen hin bewertet würden.

Auch im internationalen Vergleich ist Deutschland bei den Arzneimitteln ein Hochpreisland: Mit Blick auf die 250 umsatzstärksten, patentgeschützten Präparate landet das Land im Vergleich zu acht anderen europäischen Nachbarn an der Spitze. In Deutschland lag der durchschnittliche Apothekenverkaufspreis eines patentierten Arzneimittels laut Report im Jahr 2015 bei rund 369 Euro. Pro Verordnung war der Preis damit im Schnitt fast 13-mal höher als bei sogenannten generischen Arzneimitteln, die rund 29 Euro kosteten. Generika sind Nachahmerpräparate von Markenmedikamenten, deren Patentschutz abgelaufen ist.

Einige Präparate hatten gefährliche Nebenwirkungen

Verantwortlich für die steigenden Arzneimittelkosten seien aber auch die Ärzte selbst: „Konzentriert euch auf das, was ihr kennt, nicht auf Präparate mit wenig Praxiserfahrung“, fordert AOK-Vorstandschef Martin Litsch. Oft komme es vor, dass teure neue Medikamente, die nur für bestimmte Patienten einen Zusatznutzen hätten, dennoch breit verschrieben würden – einfach weil sie neu seien. Um das zu verhindern, brauchten die Ärzte leicht und schnell verständliche Bewertungen aller Medikamente, einschließlich ihrer Preise.

Die neuen Medikamente sind oft nicht nur extrem teuer. Einige der Präparate, die 2015 zu den massiven Kostensteigerungen geführt hatten, bringen dem Report zufolge sogar lebensbedrohliche Risiken mit sich: Laut Report-Autor Schwabe seien beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) 11.000 Meldungen über schwere Blutungen eingegangen – als Nebenwirkungen einer Therapie mit vier neuen Medikamenten, die die Blutgerinnung hemmen sollen. In zehn Prozent der Fälle seien die Blutungen sogar tödlich verlaufen.

Scharfe Kritik übt der Report an der Politik: Mit seiner neuen Gesetzesinitiative zur Arzneimittelversorgung werde Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) die staatliche Preisbremse weiter lockern – und Transparenz bei den Preisen verhindern. So solle künftig der zwischen Hersteller und Krankenkassen ausgehandelte Erstattungsbetrag geheim gehalten werden. Während die Pharmaverbände argumentieren, auf diese Weise könne der Betrag niedriger gehalten werden, weil damit Deutschland nicht mehr die Preise für Europa vorgebe, glaubt Report-Autor Schwabe das Gegenteil: So werde das Hochpreisland stabil erhalten. Der Gesetzentwurf sei „von den Lobbyisten der Pharmaindustrie geschrieben worden“.