New York/Charlotte.

Hatte er ein Buch dabei und saß friedlich in seinem Auto – wie seine wütende, trauernde Familie behauptet? Oder war der Afroamerikaner Keith Lamont Scott (43) bewaffnet? Weigerte er sich trotz mehrfacher Aufforderung, seine Pistole niederzulegen, bevor der Streifenpolizist Brentley Vinson (26) ihn am Dienstag erschoss? Von der Antwort hängt ab, ob die seit zwei Tagen andauernden Unruhen mit Plünderungen, Steine werfenden Demonstranten, brennenden Autos, blockierten Straßenkreuzungen, eingeschmissenen Fensterscheiben und Tränengas-Granaten in Charlotte schnell beendet werden können. Oder ob North Carolinas größte Stadt sich – analog zu Ferguson oder Baltimore – auch ins kollektive Gedächtnis Amerikas einbrennt. Als ein Ort, an dem sich die Rassenspannungen in brutaler Gewalt entladen.

Ginge es nach Bürgermeisterin Jennifer Roberts, wäre die Sache schnell beizulegen. Polizeichef Kerr Putney müsste nur das von einer Körperkamera am Revers des Polizisten aufgenommene Video veröffentlichen, das die tragische Konfrontation zwischen Scott und Vinson festhielt. So ähnlich war es gerade in Tulsa/Oklahoma geschehen. Dort hatte eine Polizistin den 40-jährigen Terence Crutcher, schwarz, unbewaffnet, aus nächster Nähe erschossen. Obwohl er, wie verschiedene Videos zeigen, bei einer Kontrolle die Hände über dem Kopf und später am Dach seines Autos hatte. Polizeichef Chuck Jordan distanzierte sich sofort von der Schützin, die umgehend suspendiert wurde.

300 Millionen Waffenin Privatbesitz

In Charlotte verschleppen die Behörden die Herausgabe des Beweismaterials. Das löste die Proteste aus, bei denen ein weiterer Mann lebensgefährlich angeschossen wurde (nicht durch die Polizei). Eine Steilvorlage für die Demonstranten, die Teile der Innenstadt so in Aufruhr brachten, dass Gouverneur Pat McCrory den Ausnahmezustand verhängte und die Nationalgarde in Marsch setzte. „Hier soll verschleiert werden, was wirklich geschah“, sagte der 19-jährige Derron stellvertretend für viele den Reportern der Lokalzeitung „Observer“, „ich habe es endgültig satt, dass ständig Unschuldige sterben, weil den Cops die Nerven durchgehen.“ Ohne die Videoaufnahmen, betonten Menschenrechtsgruppen, „wird das Misstrauen in Charlotte überkochen.“

Seit zwei Jahren hört man solche Sätze immer wieder in Amerika. Es fing am 9. August 2014 an, als ein Polizist in Ferguson (Missouri) den 18-jährigen afroamerikanischen Schüler Michael Brown tötete. Seither vergeht kaum eine Woche mehr, ohne dass irgendwo ein Handy-Video auftaucht, das das Ende eines Menschenlebens zeigt. Und die Überforderung, manche sagen: Rücksichtslosigkeit vieler Gesetzeshüter, die erst schießen und dann nachdenken. Im Juli starb Philando Castile auf dem Beifahrersitz seines Autos. Das Ende einer Kontrolle wegen eines kaputten Bremslichts. Als Castile, 32, schwarz, die Papiere herausholen wollte, drückte ein Polizist ab. Die vierjährige Tochter des Opfers musste alles mit ansehen.

Weil amtliche Statistiken fehlen, wird die Rechenarbeit der „Washington Post“ als Standard herangezogen, um die Dimension zu veranschaulichen. 2015 starben 990 Menschen in Amerika durch Polizeigewalt. Der britische „Guardian“ zählt anders und kommt auf 1100. In den ersten neun Monaten dieses Jahres, so die „Post“, verloren bereits 706 Männer und Frauen (Stand: 22. September) ihr Leben. 163 davon waren Afroamerikaner. Das dafür verantwortlich gemachte Ursachenbündel ist bekannt. Bei geschätzt über 300 Millionen Waffen in Privatbesitz müssten Polizisten auch bei Routine-Einsätzen „immer mit dem Schlimmsten rechnen“, sagt die Gewerkschaft. „Polizisten fühlen sich ständig im Krieg gegen Drogen, Terror und brutale Alltagskriminalität“, sagt der ehemalige Polizeichef New Yorks, Bill Bratton. Weil Schwarze überproportional häufiger als Weiße in Polizeikontrollen geraten, entsteht der Eindruck der rassistisch motivierten Benachteiligung. In Ferguson bestätigten Ermittlungen des Justizministeriums diesen Verdacht so massiv, dass eine große Reform angeordnet wurde, an der sich andere Städte orientieren: Mehr Afroamerikaner generell im Polizei-Heer, mehr schwarze Polizeichefs, mehr „community policing“, die Einbettung also der Beamten in die lokalen Kieze.

Einzelne Erfolge, etwa in Ferguson, werden jedoch oft durch als ungerecht empfundene Gerichtsurteile neutralisiert. In Baltimore kamen im Fall Freddy Gray sechs Polizisten straffrei davon. Der junge Schwarze erlitt nach seiner willkürlichen Festnahme während einer Fahrt in einem Gefangenentransporter einen Genickbruch. Es kam zu schweren Ausschreitungen. Mit jedem umstrittenen Todesfall sinkt die Toleranzschwelle in der schwarzen Bevölkerung. In dieser Gemengelage gießt der republikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump nun Öl ins Feuer. Er fordert die landesweite Einführung der umstrittenen Polizeitaktik „Stop and Frisk“ – zu Deutsch: „Stoppen und Filzen“. Die Taktik erlaubt es der Polizei, Passanten verdachtsunabhängig anzuhalten und robust zu durchsuchen. In New York, wo die Strategie über viele Jahre angewandt wurde, trat dabei zutage, was Kritiker „racial profiling“ nennen. Konkret: Von rund fünf Millionen „gefilzten“ New Yorkern waren fast 85 Prozent Schwarze und Latinos. Obwohl sie gerade einmal 40 Prozent der Bevölkerung Big Apples stellen.

2013 erklärte ein Bundesrichter „Stop and Frisk“ für verfassungswidrig. Das Verfahren sei „schikanös“. Donald Trump ist New Yorker. Er weiß das. Trotzdem verlangt er die Rückkehr zu einer Taktik, die laut Sicherheitsexperten „wie eine Kampfansage an das schwarze Amerika klingt“.