Berlin.

Für den Koalitionsgipfel im Kanzleramt hatte SPD-Chef Sigmar ­Gabriel die Latte ziemlich hoch gelegt. Handlungsfähigkeit müsse die große Koalition zeigen, forderte Gabriel vorab in einem Brief an CDU-Chefin Angela Merkel und CSU-Chef Horst Seehofer: „Wir müssen den Beweis antreten, dass die Koalition den Willen und die Kraft aufbringt, den Zusammenhalt der ganzen Gesellschaft zu festigen.“

Der Wille ist wohl vorhanden, die Kraft aber offenbar begrenzt: Beim ersten Treffen nach der Sommerpause sprachen die drei Parteichefs am Sonntag nach Teilnehmerangaben zwar „sehr freundlich“, in „guter Atmosphäre“ und „ohne Sticheleien“ miteinander. Konkrete inhaltliche Beschlüsse aber seien in den gut zweistündigen Beratungen nicht gefallen, hieß es. Vereinbart wurde indes ein Fahrplan, um rasch eine Einigung bei einer Reihe strittiger Themen zu erreichen – Gabriel hatte in seinem Brief sechs Punkte aufgelistet, von der Erbschaftsteuer bis zur Mindestrente.

Ein weiterer Koalitionsgipfel ist für Anfang Oktober geplant

Bei diesen und anderen Themen versprachen einander die Koalitionsspitzen, im Herbst zum Abschluss zu kommen; bei einem weiteren Gipfel Anfang Oktober sollen erste Entscheidungen fallen. Über Details herrscht Stillschweigen. Dass sich die Koalition doch noch zum Endspurt aufrafft, hatten Optimisten schon erwartet. Überraschender ist, dass die drei Parteichefs nach Teilnehmerangaben den Streit über die Flüchtlingspolitik lieber gleich ausklammerten.

Über den unionsinternen Konflikt hatten Merkel und Seehofer zuvor unter vier Augen beraten. Die CSU war am Sonnabend noch einmal auf Konfrontation gegangen: Vom CSU-Vorstand hatte Seehofer Rückendeckung bekommen für Forderungen nach einer gesetzlichen Obergrenze für Flüchtlinge, einem Rückführungskonzept oder einem Burka-Verbot. Seehofer wusste schon vor dem Besuch im Kanzleramt, dass Merkel die Obergrenze oder ein umfassendes Burka-Verbot ablehnt - eine Annäherung ist nicht in Sicht. Beide hätten aber den Wunsch signalisiert, die verfahrene Situation aufzulösen, hieß es. Zum Koalitionsthema wird der CSU-Forderungskatalog nicht mehr, Seehofer plant schon für den Wahlkampf.

Gabriel lehnte die Vorschläge kurz vor dem Gipfel ab – auf eine längere Debatte will sich die SPD erst gar nicht einlassen. Auch Merkel drängt, jetzt wieder andere Themen in den Vordergrund zu stellen. Tatsächlich ist die Liste der Aufgaben, die Schwarz-Rot noch erledigen muss, ziemlich lang – die Liste der damit verbundenen Konflikte allerdings auch. Allein der Koalitionsvertrag enthält noch ein halbes Dutzend große Brocken für die Regierung: Ein geplantes Gesetz gegen Lohnungleichheit von Frauen und Männern, das Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) ausgearbeitet hat, liegt wegen Bedenken der Union seit Monaten im Kanzleramt auf Eis. Sozialministerin Andrea Nahles (SPD) streitet mit Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) darüber, ob die Angleichung der Ost-West-Renten aus Steuermitteln finanziert wird, was Schäuble ablehnt. Noch unklar ist auch, was aus dem Plan einer Mindestrente für langjährige Geringverdiener wird; nur bei den Vorbereitungen für eine Reform der Betriebsrenten und der Riester-Rente hat Nahles die Unterstützung der Unionsseite. Eine weitere Mietrechtsreform von Justizminister Heiko Maas (SPD), die Mieterhöhungen begrenzen soll, kommt wegen der Bedenken der Union nicht voran. Weitere Baustellen: die Neuordnung der Bund-Länder-Finanzen und die verschleppte Reform der Erbschaftsteuer.

Die Koalition ist längst im Verzug: Merkel hatte angekündigt, die Regierung wolle den Koalitionsvertrag bis zum Sommer abarbeiten – bis Weihnachten sollten alle Gesetze den Bundestag passiert haben. Daraus wird nichts. Die Union wirft der SPD vor, bei vielen Gesetzentwürfen über die Verabredungen im Koalitionsvertrag hinausgegangen zu sein. Bei der SPD dagegen heißt es, CDU und CSU blockierten systematisch Vorhaben der Sozialdemokraten.

Ein Jahr vor der Bundestagswahl hat also der Vorwahlkampf begonnen – und das Ringen um Profilierung. Aber andererseits wissen Union und SPD sehr wohl, dass sie bei vielen Themen noch liefern müssen. Den Eindruck, die Koalition lege schon ein Jahr vor der Wahl die Hände in den Schoß, wollen sie auf jeden Fall vermeiden. Eine schwierige Balance, zumal beide Seiten signalisieren, dass sie die große Koalition lieber nicht fortsetzen wollen. Der Abschied hat begonnen. In der SPD läuft dazu das Projekt „Entflechtung“, wie Fraktionschef Thomas Oppermann es nennt: Es geht nicht um den Bruch, aber um starke Abgrenzung – und eine Politik der Nadelstiche: So will Oppermann die Union beim Thema innere Sicherheit vorführen, ein Gutachten des Bundestags soll „Widersprüchliches und Gegensätze“ in den Forderungen der Unionsparteien zutage fördern. Und Gabriel distanziert sich nicht nur von Merkels Flüchtlingspolitik, er fordert jetzt auch mehr Mitsprache der SPD-Ressorts in der Europa-Politik.

Bei der Union sinkt in diesem Klima die Bereitschaft, der SPD weitere Erfolge zu ermöglichen. Für den Wirtschaftsflügel war schon mit Mindestlohn und Rente mit 63 die Grenze erreicht – wo immer jetzt neue Gesetzespläne zu Belastungen der Wirtschaft führen könnten, treten Unionspolitiker auf die Bremse. Eine zentrale Rolle spielt Finanzminister Schäuble. Er vor allem setzt die Nadelstiche für die Union. Schäuble nennt Vorschläge des Wirtschaftsministers schon mal „erbärmlich“ oder legt dem Justizminister den Rücktritt nahe.

Wie es weitergeht, hängt auch davon ab, ob sich Union und SPD auf einen gemeinsamen Kandidaten für die Wahl des nächsten Bundespräsidenten im Februar 2017 einigen können. Im Kanzleramt haben die drei Parteichefs dem Vernehmen nach zumindest über ein Verfahren zur Kandidatensuche gesprochen. Merkel ist am Zug, sie wird bald einen Vorschlag machen. Findet sich ein Konsenskandidat, den auch die SPD mitträgt, wäre das ein Beitrag zum Koalitionsfrieden.

Merkel hätte daran besonderes Interesse. Sie hat noch andere Krisen zu bewältigen. Kaum hatten Seehofer und Gabriel das Kanzleramt verlassen, widmete sich Merkel der Krise Europas. Zur Vorbereitung des bevorstehenden EU-Gipfels empfing sie am Abend die Regierungschefs von Lettland, Litauen, Malta, Portugal und Zypern.