Berlin.

Der Himmel strahlte an diesem Morgen in einem magischen Blau, kein Wölkchen weit und breit. Ich hatte gute Laune, stieg wie gewohnt kurz vor sechs Uhr aus der U-Bahn und holte mir im Starbucks um die Ecke einen Grande Americano mit zwei Schokocroissants. Danach ging ich in mein Büro in der dritten Etage des Blake Buildings in der Connecticut Avenue im Herzen von Washington. Ich war damals Amerikakorrespondent für das „Handelsblatt“.

Ich begann einen Leitartikel über das Haushaltsdefizit unter Präsident George W. Bush, der natürlich nie gedruckt wurde. Im Hintergrund lief das Morgenprogramm des Fernsehsenders ABC. Kurz vor neun unterbrach die Moderatorin die Sendung. „Nach ersten Angaben ist ein Kleinflugzeug in das World Trade Center in New York gestürzt“, sagte sie. „Okay, ein Unfall, vielleicht eine Cessna“, dachte ich und schrieb weiter.

„Dieser Angriff ist einzweites Pearl Harbor“

Zehn Minuten später. Die Moderatorin wich wieder von ihrem Fahrplan ab, sprach hastig den Satz: „Ein zweites Flugzeug ist ins World Trade Center gekracht, in beiden Fällen handelte es sich um Passagiermaschinen.“ Kurz darauf brachten die ersten TV-Kommentatoren das Terrornetzwerk al-Qaida als Drahtzieher eines Anschlags ins Spiel.

Und dann kamen die ersten Bilder, bei denen ich noch heute Gänsehaut bekomme: die Jets, die sich in die Zwillingstürme bohrten, Feuerbälle, Rauchwolken. Kurz vor zehn Uhr wurde die Nachricht verbreitet, dass eine weitere Maschine den Westflügel des Pentagons zerstörte.

Ich eilte aus dem Büro hinaus. Auf der K Street bildeten sich lange Schlangen vor einem Fernsehgeschäft. Schweigend, mit kaltem Entsetzen schauten die Menschen auf die Katastrophenaufnahmen in New York und Washington. Die Symbole für die wirtschaftliche und militärische Macht der USA waren nur noch Flammen, Schutt und Staubwolken. „Das ist ein Angriff auf amerikanischem Boden, ein zweites Pearl Harbor“, sagte Lesley Crawford, eine blonde Sekretärin mit zitronengelbem Kleid. Jener Angriff von 1941 also, bei dem japanische Flieger die US-Pazifikflotte im Hafen auf Hawaii attackierten.

Als sie Pearl Harbor erwähnte, zuckte ich zusammen. Ich begriff: Was heute passiert ist, ist ein gewaltiger Einschlag in die kollektive Psyche Amerikas. Die Menschen hatten bislang geglaubt, dass sie durch zwei Ozeane geschützt seien. Die Supermacht, die nie einen Krieg auf eigenem Territorium erlebt hatte, wurde zur Zielscheibe eines anonymen Feindes.

Die Polizei hatte den Bezirk rund um das Weiße Haus mit schwarz-gelben Bändern abgesperrt. „Verlassen Sie sofort diesen Bereich!“, schrie ein Beamter einen Mann an, der die H Street überqueren wollte. Mittlerweile kursierte die Meldung, dass ein viertes Flugzeug, das im Bundesstaat Pennsylvania abgestürzt war, eigentlich das Weiße Haus in Schutt und Asche legen sollte.

Ich fuhr zum Pentagon, das eineinhalb Kilometer von meiner Wohnung entfernt lag. „Hätte die Maschine auch das Apartment von meiner Frau und mir treffen können?“, schoss mir durch den Kopf. Das US-Verteidigungsministerium war weiträumig abgesperrt. Feuerwehrleute, Polizisten, Ärzte und freiwillige Katastrophenhelfer wuselten durch eingestürzte Wände und Geröllhaufen.

300 Meter vor dem Fünfeck mit der hellbraunen Fassade standen mehrere Hundert Menschen. Sie schauten regungslos auf die Trümmerwüste, über der noch immer Qualm hing. Viele hatten sich die amerikanische Flagge umgehängt, einige trugen ein Plakat mit der Aufschrift „United we stand“ – „Wir stehen zusammen“. Ich schrieb drei Artikel. Gegen 20 Uhr fuhr ich mit der U-Bahn nach Hause. Ich nahm die Rolltreppe, die 100 Meter tief in den Bahnhof führte. Plötzlich verselbstständigten sich die Bilder, die ich im Fernsehen gesehen hatte. Das brennende World Trade Center, der Rauch im Pentagon. In meiner Fantasie stiegen im U-Bahnschacht Feuerbälle auf. „Der nächste Anschlag kann überall und jederzeit passieren“, dachte ich.

Als ich am späten Abend das Fernsehen einschaltete, redete George W. Bush. „Dies wird ein monumentaler Kampf zwischen Gut und Böse. Aber das Gute wird siegen“, kündigte der finster dreinschauende Präsident an. Verteidigungsminister Donald Rumsfeld saß mit steinerner Miene daneben. Bushs Körpersprache signalisierte Entschlossenheit und den Willen der gedemütigten Supermacht zum gezielten Gegenschlag. Gegen wen, war schnell klar: Al-Qaida-Chef Osama bin Laden und die Terrorhochburg Afghanistan. Gleichzeitig warnte das US-Fernsehen vor neuen Anschlägen – dieses Mal mit schmutzigen Atombomben.

Als ich gegen Mitternacht, innerlich noch völlig aufgewühlt, das Licht ausmachte, wusste ich: Der 11. September wird das Leben in Amerika schlagartig verändern. Bei mir hatten sich die Bedrohung und die Terrorangst bereits in jeden Winkel der Seele eingenistet. Flugzeuggeräusche waren auf einmal keine normalen Flugzeuggeräusche mehr. Es waren potenzielle Bomben.

In den Tagen danach fand ich zumindest in einigen Momenten Trost. Vor meinem Schlafzimmer im Erdgeschoss lag ein Rasenstück, aus dem nachts die Grillen zirpten. Selten hatte ich ein Geräusch als so friedvoll empfunden. Es war, als ob ich auf einer unendlichen Ruhewolke schwebte, abgeschottet gegen alle Terroralbträume. „Solange die Grillen zirpen, ist die Welt noch nicht untergegangen“, sagte ich mir. Ich beschloss, sollte ich jemals so etwas wie Memoiren schreiben, würde ein Kapitel die Überschrift tragen: „Für meine Freunde, die Grillen.“