Calais. Wie verzweifelte Flüchtlinge versuchen, vonFrankreich nach England zu kommen. Eine Reportage aus dem „Dschungel“ von Calais

Der Schatten der Lastwagen verschluckt Mohammed und seine drei Freunde. Es ist Nacht geworden in Calais, die Fernfahrer sitzen in ihren Kabinen, andere unterhalten sich auf dem Parkplatz der Tankstelle. Man sieht sie 20 Meter entfernt im Licht der Laternen, hier, etwas außerhalb der Stadt, zwischen Gewerbehöfen, der Rue Costes et Bellonte und der Autobahn A216.

Mohammed sagt, dass es nicht gut aussehe für sie, an diesem Abend. Der junge Mann aus Äthiopien und die anderen drei aus Eritrea wollen sich in einem der Anhänger der Lastzüge verstecken, unbemerkt mitreisen durch den Tunnel von Calais, von der Nordspitze Frankreichs rüber nach England. Zum Ziel ihrer langen Flucht.

„Vielleicht gehen wir wieder ins Camp“, sagt Mohammed auf Englisch. Zwei der Eritreer kommen gerade zurück von einem Streifzug über den Parkplatz. Viele Lastwagen haben die Heckklappe ihrer leeren Anhänger geöffnet. Es ist das Signal an die Flüchtlinge: Wir transportieren keine Ladung mehr, wir fahren nicht nach England. Hier braucht ihr euch nicht zu verkriechen.

Plötzlich hören Mohammed und seine Freunde hundert Meter entfernt das laute Hupen eines Lkw-Horns. Dann Rufe. Sie rennen los.

Runter vom Parkplatz und durch die Büsche, links die Gewerbehöfe, rechts die Autobahn. „Sie versuchen, die Straße zu blockieren und einen Laster anzuhalten“, sagt Mohammed. Als sie die Gruppe erreichen, hockt ein Dutzend junge Männer in der Autobahnböschung. Vor allem Afghanen, darunter zwei Sudanesen. Der Versuch ist gescheitert. Aber sie wollen es wieder probieren, sammeln sich hinter der Leitplanke.

Mohammed wird die Sache zu heikel. Zumal die Afghanen aufmerksam werden, als er auf Englisch flüstert. „Wir schleichen zurück.“

Kurz danach heulen Polizeisirenen auf.

Die jungen Männer rennen aus dem Gebüsch über den Parkplatz, verschwinden im Dunkel der Nacht. Dann ein Knall und ein Knistern, als hätte jemand eine Silvesterrakete abgeschossen. „Tränengas“, sagt Mohammed. „Ich muss hier jetzt auch weg.“ Einen Augenblick danach wabert der beißende Qualm wie eine Nebelwolke zwischen Laternen und Lastwagen über den Parkplatz der Tankstelle.

So laufe das fast jede Nacht, haben Anwohner am Nachmittag erzählt. Fernfahrer stellen Handyvideos ins Internet, wie sie auf der Straße mit Holzlatten und Ästen attackiert werden. Und auch in dieser Nacht leuchtet das Blau der Polizei an mehreren Punkten der Autobahn, die in Richtung Eurotunnel führt. Der „Dschungel“ von Calais kommt nicht zur Ruhe.

„Dschungel“, so nennen alle das Flüchtlingslager am Rande der Küstenstadt. Aber hier stehen keine Bäume, hier sind nur Wiesen auf Sand. Und ein mehrere Hektar großes Dickicht an Zelten, Bretterbuden und maroden Wohnwagen, dazwischen ein paar Dutzend weiße Container. Mehr als 6000 Menschen leben hier, manche der Helfer sagen, es könnten 10.000 sein. Niemand weiß das genau. Im „Dschungel“ verläuft sich jede Statistik.

Die Menschen flohen aus Afghanistan und Pakistan, aus dem Sudan, Eritrea, Äthiopien. Auch Beduinen aus Kuwait leben hier sowie Kurden aus Syrien und dem Irak.

Die große Fluchtkrise der vergangenen Monate kennt viele kleine Orte, die zum Symbol für das Elend auf Europas Boden wurden. Idomeni und Lesbos in Griechenland, Zeltlager in Slowenien und Serbien, die italienische Insel Lampedusa. Die meisten Orte sind aus den Schlagzeilen verschwunden. Aber die Menschen nicht. Die meisten harren in Lagern aus, stecken in Asylverfahren oder ziehen weiter. Calais aber war immer schon da.

Und der „Dschungel“ wächst. Über die Zeit haben die Menschen hier aus Holzlatten, Planen und Wellblech, das britische Helfer angeliefert haben, Imbissbuden und Kioske gebaut. Sie heißen „New Kabul“ oder „Peace Restaurant“. Es sei eine Art Immobilienmarkt für die Hütten entstanden, erzählt Helfer Tom Yushin. Seit einem Jahr hilft er im Camp. Meist lebt er im Wohnwagen mitten im „Dschungel“.

Es gibt eine Moschee in einem großen weißen Zelt, ein paar Hütten, in denen Helfer Englisch unterrichten, „School“ steht in bunter Schrift an der Tür. In einem Club spielen Flüchtlinge Billard, von der Decke strahlt eine kleine Discokugel bunt das Pressholz an. „Wir versuchen, die miserable Lage zu vermenschlichen“, sagt Yushin.

Vor 60 Jahren kamen Flüchtlinge aus Jamaika in die Küstenstadt, die nach England wollten, erzählt Barbara Jurkiewicz, die gemeinsam mit anderen für den Staat das Camp versorgt und verwaltet. Vor mehr als 15 Jahren flohen dann Menschen aus dem Kosovo hierher und weiter über den Kanal. Und jetzt kommen sie aus allen möglichen Krisen und Kriegen.

Im Februar 2015 hat ein Dutzend Helfer am Tag 400 Portionen Essen verteilt. Heute sind es meist mehr als 4000, und 120 Mitarbeiter regeln das Leben in drei Schichten am Tag, an sieben Tagen in der Woche. Frauen und Kinder sieht man im „Dschungel“ nicht. Knapp 300 wohnen in gesicherten Containern am Rand des Camps. Tom Yushin sagt: Je mehr die Menschen hier versorgt werden, desto mehr kommen neu an. Aber was gebe es schon für eine Wahl, wolle man Europas Humanität nicht verraten? Es ist das Dilemma einer Krise.

Viele, wie Mohammed aus Äthiopien, sind schon Monate hier. Der junge Noha aus dem Sudan erzählt, er habe schon 26 Mal versucht, im Anhänger eines Lastwagens nach England zu kommen.

Der 30 Kilometer lange Trip nach England endet oft tödlich

Es ist nach Mittag, Noha sitzt vor einem Holzverschlag und schält Zwiebeln. Ein Freund kocht Wasser auf dem Lagerfeuer vor der Hütte. Zu siebt schlafen sie dort, auf dem Boden liegen Decken, an der Wand hängen Plastiktüten mit Pullovern und Hosen. Nachts huschen Ratten um die Zelte.

Noha reiste auf seiner Flucht durch Libyen, Schleuser brachten ihn und andere Migranten zu einem Boot. „Die Männer hatten Waffen, sie haben uns die Augen verbunden. Das war wie Mafia“, sagt Noha. Er schaffte es nach Italien, eine Mutter und ihr Kind nicht. „Ich habe sie sterben sehen.“ Noha will nach England, weil viele Sudanesen sagen, dass man dort auch ohne Papiere Geld verdienen kann. „Deutschland ist nicht gut zu Menschen aus Afrika“, sagt er. „Für Sudanesen gibt es kein Asyl.“

Viele Tausend Kilometer Flucht hat Noha schon hinter sich. Und nur noch gut 30 bis England vor sich. „Ich werde es wieder versuchen.“ Heute aber, sagt Noha, werde er im Camp bleiben. Die Zwiebeln brutzeln im Topf über dem Feuer.

Der „Dschungel“ ruht am Tag, in der Nacht beginnen die Fluchtversuche. Bis vor einigen Monaten waren die Chancen am besten, wenn man im Hafen auf einen der Züge aufsprang, die von hier durch den Eurotunnel fahren. Viele versuchten es sogar zu Fuß, rannten vor den Polizeihunden ins Schwarz des Tunnels. Wer sich Calais mit dem Auto nähert, liest die Warnschilder an der Autobahn: „Achtung! Fußgänger auf der Straße.“ Viele Flüchtlinge schafften es im vergangenen Jahr nicht lebend auf die andere Seite des Kanals.

Die Polizei zog die Zäune höher, schickte mehr Beamte, riegelte den Hafen und die Zufahrtsstraßen so gut es geht ab, ohne den Verkehr zu stoppen. Jetzt bleibt Mohammed, Noha und den Tausenden anderen das Verkriechen in Lastwagen. Und das ist gefährlich, vor allem für die Flüchtlinge. Durch die Blockaden aber auch für die Fernfahrer.

Nur selten schafft es eine Gruppe weiter als bis zur ersten Kontrolle vor dem Eurotunnel. Aber manche kommen durch. Und mit jeder Nachricht eines Freundes aus England bleibt die Hoffnung im „Dschungel“ am Leben.

Rund 80 Millionen Euro hat Großbritannien bisher an Frankreich gezahlt, damit sie die Überfahrten kontrollieren. Noch einmal 22 Millionen sollen dazukommen. Um die Flüchtlinge besser abzuhalten, will Großbritannien nun eine vier Meter hohe Betonmauer an der Tunneleinfahrt im Hafen der französischen Stadt bauen. Sogar die Kosten dafür übernehmen, sagte der britische Einwanderungsminister Robert Goodwill dem britischen „Telegraph“. Die Barriere soll etwa einen Kilometer lang werden und verhindern, dass Migranten den Verkehr anhalten, um auf Lkw oder Lastwagen zu springen. Abgesperrt ist das Gebiet bisher mit einem zweireihigen Zaun.

Der Druck auf die Regierung in Paris steigt. Großbritannien will aus der EU. Und in Frankreich ist Wahlkampf – vor allem in der Region Calais sind die Rechtsextremen vom Front National stark. Am vergangenen Montag demonstrierten Bauern, Einzelhändler und Lkw-Fahrer dafür, dass der Staat das Camp endlich auflöst. Der Student Gregoire steht an einer Kreuzung. Mit Treckern haben die Männer die Straße in Richtung Calais blockiert, ein Stück weiter, auf der Autobahn, versperren Lastwagen die Fahrbahn. 5000 Menschen protestieren in der ganzen Stadt. Überall ist Stau.

Gregoire sagt, dass er die Not der Migranten verstehe. Aber die Menschen in Calais würden den Ausnahmezustand nicht mehr aushalten. „Jede Nacht Alarm“, sagt er. Mit Polizeisirenen und Helikopterknattern. Immer wieder kam es zuletzt auch zu Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Flüchtlingen. Die Polizisten schossen mit Tränengas, die Migranten schmissen Steine. Oder ein Streit eskaliert untereinander, zwischen den Gruppen im Camp. Viele würden ein Messer bei sich tragen, sagt Noha.

Die Bilder vom Elend in Calais gehen seit Jahren um die Welt. Das Chaos schade ihrem Schlaf, sagt Gregoire. Und der ganzen Region, der Wirtschaft, dem Tourismus.

Die Anwohner wollen die verbindliche Schließung

Im Winter räumte die Polizei ein Teil des Camps. Und kürzlich kündigte der französische Innenminister Calais die vollständige Schließung an. Doch das reicht vielen nicht, sie wollen ein Datum. „Die Situation hier ist ein Pulverfass“, sagt einer der Bauern. Und zwischen Zäunen, Stacheldraht und Polizeikontrollen schwebt die große Ungewissheit: Was wird aus den Menschen im „Dschungel“?

Immer mehr von ihnen entscheiden sich dafür, in Frankreich um Asyl zu bitten. Und immer mehr reisen zurück in ihre Heimat, auch weil ihnen der französische Staat einige Hundert Euro als Hilfe zahle, sagt Camp-Mitarbeiterin Jurkiewicz. Die allermeisten aber wollen es weiter versuchen – trotz der Gefahr, trotz der geringen Chancen.

Es ist morgens in der Nähe von Calais, als eine Gruppe von Männern, eine Frau mit einem Kleinkind müde über eine kleine Asphaltstraße schleichen. Sie kommen aus dem Iran und dem Irak. Und sie erzählen, dass sie es in der Nacht auf einen Lastwagen geschafft hatten. Doch nach kurzer Zeit sei die Fahrt zu Ende gewesen. Der Transport ging nicht durch den Tunnel nach England. Sondern nur in einen Nachbarort von Calais.