Berlin.

Sie sitzen nächtelang am Computer, kleben am Smartphone und können Tage ohne Netz nicht ertragen: Mehr als eine halbe Million Menschen gelten in Deutschland als internetabhängig, jeder Zwanzigste ist gefährdet. Experten fürchten, dass die Zahl der Onlinesüchtigen noch massiv anwachsen wird. Mit einem neuen Angebot versuchen Suchtexperten, gefährdeten Menschen und ihren Angehörigen zu helfen – per Selbsttest und Onlineberatung im Videochat.

„Fühlen Sie sich ruhelos, gereizt, launisch, wütend, ängstlich oder traurig, wenn Sie versuchen, weniger oder gar nicht online zu sein oder wenn Sie keine Möglichkeit haben, ins Internet zu gehen?“ Schon an den ersten Fragen des Selbsttests wird sichtbar: Onlinesucht ist kein Phänomen mehr, das nur zurückgezogene Teenager betrifft. „Das Problem hat die Mitte der Gesellschaft erreicht“, sagt die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler. Die CSU-Politikerin warnt davor, Internet-und Onlinesucht „als Randphänomen“ zu betrachten. „Deutschlandweit gelten mehr als eine halbe Million Menschen als internetabhängig und wir müssen davon ausgehen, dass diese Zahlen zukünftig deutlich ansteigen werden“, sagte Mortler dieser Zeitung.

Am Montag wird die Webcam-basierte Beratung der Onlineambulanz Oasis freigeschaltet (www.onlinesucht-ambulanz.de). Das Angebot wird von der Bundesregierung gefördert und bietet eine Erstdiagnostik für Betroffene und Angehörige: Wer den Selbsttest auf der Website gemacht hat, kann mit den Experten der Universität Bochum über das Ergebnis sprechen. „Wir holen die Abhängigen dort ab, wo ihre Sucht entstanden ist, und bauen ihnen eine digitale Brücke für eine analoge Beratung“, erläutert Bert te Wildt, Psychiater und Psychotherapeut an der Uni Bochum.

Laut Studien ist rund ein Prozent der 14- bis 64-Jährigen in Deutschland internetabhängig. Jugendliche und junge Erwachsene sind häufiger betroffen als Ältere: In der Altersgruppe zwischen 14 und 24 Jahren gelten 2,4 Prozent als internetabhängig.

Von einer „Sucht“ im klinischen Sinn sprechen Experten, wenn mehrere Beeinträchtigungen zeitgleich und über eine gewisse Dauer vorliegen: Wer Familie und Freunde vernachlässigt, wer keine digitalen Pausen erträgt, wer keine analogen Hobbys mehr kennt, der gilt als zumindest suchtgefährdet. „Die Folgen für die Betroffenen sind gravierend“, so Mortler. „Junge Männer denken an nichts anderes mehr als ihr Rollenspiel im Internet. Der Avatar wird wichtiger als das eigene, reale Leben, die Sozialkontakte, Beruf oder Ausbildung. Selbst die Körperpflege bleibt auf der Strecke.“ Die Drogenbeauftragte will die Medienkompetenz bei Eltern und Lehrern stärken und zusammen mit den Ländern die Beratungs- und Behandlungsangebote ausbauen. Erwachsene müssten aber auch ihr eigenes Verhalten kontrollieren. Prüfen will Mortler, ob auch der Jugendschutz an die Herausforderungen der Internetsucht angepasst werden müsse und wie die Spieleanbieter für Schutzmaßnahmen zu gewinnen seien. „Die Lösung könne man nicht per Gesetz verordnen.“

Die Grünen sehen das anders: Die Hersteller müssten stärker in die Verantwortung genommen werden, sagte der suchtpolitische Sprecher der Grünen, Harald Terpe, dieser Zeitung: „Regelungen zu verpflichtenden Warnhinweisen über das Suchtpotenzial eines Spiels, Spieldauereinblendungen und automatische Spielpausen, die in das Spiel integriert sind, muss die Bundesregierung in Angriff nehmen.“