Berlin.

Vor einem Jahr, in der Nacht vom 4. auf den 5. September, traf Kanzlerin Angela Merkel (CDU) die Entscheidung, die Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen. Der Präsident des Industrieverbands BDI, Ulrich Grillo, zieht eine kritische Zwischenbilanz.

Hat sich die Entscheidung der Kanzlerin als Fluch oder als Segen für die Wirtschaft erwiesen?

Ulrich Grillo: Weder noch! Mit schnellen Erfolgen konnte niemand rechnen. Es war von Anfang an klar, dass die Migration von Flüchtlingen kein Ersatz für eine gesteuerte Zuwanderung ist. Es bringt überhaupt nichts, die Themen Asylrecht und gesteuerte Zuwanderung miteinander zu vermischen. Es herrscht ein Mangel an Fachkräften in vielen Branchen. Das lässt sich selbst durch eine bessere Integration von Flüchtlingen nicht rasch lösen. Ohne gesteuerte Zuwanderung werden unsere Unternehmen und ihre Beschäftigten leiden – und übrigens auch unser Sozialsystem. Je länger die Politik die Erledigung aufschiebt, desto größer wird der Druck auf kommende Generationen.

Sind Sie so optimistisch wie die Kanzlerin? Meistern wir die Flüchtlingskrise?

Wir können das schaffen. Und es wäre gut, wenn wir es schaffen. Wie wir das schaffen, hängt an der Politik. Der Satz allein ist mir zu unbestimmt. Dabei ist es nicht so, dass die Gesetzgeber seit vergangenem Herbst untätig gewesen wären. Auch Forderungen der Wirtschaft für einen schnelleren Arbeitsmarktzugang von Flüchtlingen wurden erfüllt – etwa mit dem Integrationsgesetz und seinem Grundsatz „Fordern und Fördern“. Insgesamt hätten wir uns etwas mehr Mut gewünscht. Sinnvoll wäre, das Beschäftigungsverbot in der Zeitarbeit vollständig auszusetzen.

Unternimmt die Wirtschaft denn genug, um Flüchtlinge in Arbeit zu bringen?

Die deutsche Wirtschaft tut sehr viel, um Flüchtlinge zu integrieren. Das ist mühsamer, als manche denken. Integration kann gelingen, aber sie benötigt Zeit und Geduld – und kluge Rahmenbedingungen. Notwendig sind Sprach- und Integrationskurse sowie Willkommensklassen. Erst dann kann die Wirtschaft durch Praktika und Einstiegsqualifizierungen den Beginn einer Ausbildung ermöglichen. Es ist überflüssig, wenn einer mit dem Finger auf die anderen zeigt. Das sollte auch im anlaufenden Bundestagswahlkampf unterbleiben.

Die Kanzlerin lädt deutsche Unternehmen in einigen Tagen zu einem Flüchtlingsgipfel. Erwarten Sie einen Durchbruch?

Grundsätzlich ist es immer gut, wenn Politik und Wirtschaft miteinander reden. Allerdings gibt es klare Verantwortlichkeiten. Die Unternehmen werden nicht zaubern können. Die Politik muss den gesetzlichen Rahmen setzen – auch um Flüchtlinge in Deutschland einzustellen. Verbindliche Zusagen über Einstellungen wird niemand geben können. Aber zusagen, sich einzusetzen, damit Integration erfolgreich gelingt – das können beide Seiten.

Was genau verlangen Sie von der Regierung?

Die größten Hürden für eine Einstellung sind immer noch unzureichende Sprachkenntnis und der Mangel an formalen Qualifikationen. Drei Viertel der Arbeit suchenden Flüchtlinge haben keine formale Berufsausbildung. Nur etwa jeder Zehnte ist Akademiker. Vorrangig für die Wirtschaft sind eine flächendeckende Sprachförderung und die Ermittlung der Kompetenzen der Neuankömmlinge. Zusätzlich muss die Politik diplomatisch und entwicklungspolitisch agieren, um unsere Gesellschaft nicht zu überfordern. So tritt der BDI dafür ein, die Anstrengungen der deutschen Entwicklungspolitik auf die Schaffung von Bleibeperspektiven in den Herkunftsländern zu konzentrieren. Wo bessere Bedingungen wirtschaftliche Perspektiven schaffen, werden die Menschen es vorziehen, in ihrer Heimat zu bleiben.

In Deutschland landen viele Flüchtlinge in der Schwarzarbeit. Wie kann das unterbunden werden?

Es muss gelingen, Flüchtende besser und schneller in offizielle Beschäftigung zu bringen, Stichwort Zeitarbeit. Schon in den ersten Monaten müssen Flüchtlinge rasch Angebote zum Einstieg in Arbeit erhalten. Dies kann auch Formen der Selbstständigkeit in kleinen Betrieben umfassen. Das würde Integration erleichtern. Zu viele Flüchtlinge warten auf den Abschluss von Asyl- und Berufungsverfahren. Viele sind in den erforderlichen Sprach- und Integrationskursen oder Qualifizierungsmaßnahmen gebunden. Mehr Tempo würde helfen.