Madrid. Interims-Regierungschef Rajoy hat heute die letzte Chance auf eine Mehrheit im Parlament. Politische Krise seit acht Monaten ungelöst

„Und jetzt – wie geht es weiter?“ Diese Frage, mit welcher die nationale Zeitung „El País“ am Donnerstag ihren Leitartikel betitelte, stellt sich die ganze spanische Nation. Der provisorische Regierungschef Mariano Rajoy fiel am Mittwochabend in der Vertrauensabstimmung im spanischen Parlament durch. Und niemand scheint zu wissen, wie Spanien, das seit 250 Tagen ohne gewählte Regierung ist, aus dem politischen Chaos herausfinden soll.

Der konservative Parteichef Rajoy, der seit Ende 2011 in Spanien an der Macht ist, aber in der Parlamentswahl im Dezember 2015 seine absolute Mehrheit verlor, hat am Freitagabend noch eine kleine Chance, das politische Chaos zu beenden: Dann ist im spanischen Parlament eine zweite Abstimmungsrunde angesetzt, in der Rajoy keine absolute, sondern nur noch eine einfache Mehrheit braucht, um von den Abgeordneten zum Regierungschef gewählt zu werden.

Sollte er auch in diesem zweiten Anlauf scheitern, drohen dem Euro-Krisenland zum dritten Mal innerhalb eines Jahres Parlamentswahlen, die im Dezember 2016 stattfinden sollen. Diese Dauerschleife würde das südeuropäische Königreich, das mit einem wachsenden Schuldenberg und Massenarbeitslosigkeit kämpft, weiter zurückwerfen. Bereits seit zehn Monaten sind keine Gesetze mehr auf den Weg gebracht worden. Ein Reformstau, der die EU besorgt.

Schulden wachsen, Konjunktur ist robust

Das Königreich muss dringend Sparmaßnahmen beschließen, um sein ausuferndes Etatdefizit unter Kontrolle zu bekommen. Initiativen zum Abbau des wachsenden Schuldenberges gibt es nicht. Die EU-Kommission hatte dem Defizitland aber erst Ende Juli aufgetragen, bis zum 15. Oktober neue Pläne vorzulegen, wie es seinen Haushalt regeln will. Sollte für 2017 nicht bald ein Haushalt aufgestellt werden, drohen finanzielle Konsequenzen. Etatentwürfe aber darf eine geschäftsführende Regierung nicht präsentieren.

Und trotz der politischen Turbulenzen rechnet der Wirtschaftsminister Luis de Guindos mit einer robusten Konjunktur in seinem Land. Das 2015 erzielte Wachstum dürfte in etwa wieder erreicht werden, sagte er in einem Hörfunkinterview. Die Regierung rechnet in diesem Jahr bislang noch mit einem Anstieg des Bruttoinlandsproduktes von 2,9 Prozent, nach 3,2 Prozent in 2015. Allerdings sei eine stabile Regierung nötig, um die Haushaltsziele im kommenden Jahr zu erreichen.

In der Vertrauensabstimmung am Mittwochabend hatte Rajoy nur 170 Ja-Stimmen erhalten, 180 Abgeordnete stimmten gegen ihn. Die in der ersten Runde notwendige absolute Mehrheit liegt bei 176 der insgesamt 350 Mandate. Der Konservative erhielt lediglich die 137 Stimmen seiner eigenen Volkspartei, 32 Stimmen der liberal-bürgerlichen Partei Ciudadanos und eine Stimme der kanarischen Regionalpartei Coalición Canaria.

Die Sozialisten, die linksalternative Partei Podemos (Wir können) und die Regionalparteien aus dem Baskenland und Katalonien stimmten gegen Rajoy. Sozialistenchef Pedro Sánchez lehnt Rajoy ab, weil dieser durch Korruptionsskandale schwer belastet sei. „Das Problem ist, dass man Ihnen nicht trauen kann“, attackierte Oppositionsführer Sánchez Rajoy.

Podemos-Vorsitzender Pablo Iglesias bot den Sozialisten an, eine gemeinsame Mitte-Links-Regierung zu versuchen. Theoretisch könnten die beiden Parteien ein Minderheitskabinett bilden und sich bemühen, mit den Basken und Katalanen eine Tolerierung auszuhandeln – eine rechnerische Mehrheit hätten sie dafür. Die bisher jedoch an den ideologischen Gräben scheiterte. Vor allem die Forderung der katalanischen Separatistenparteien, über die Unabhängigkeit Kataloniens per Referendum abstimmen zu dürfen, stößt bei den Sozialisten auf Widerstand.

In Spanien scheint niemand an ein politisches Wunder in der zweiten Abstimmungsrunde am Freitagabend zu glauben. „Das Szenario von dritten Parlamentswahlen nähert sich“, titelte die einflussreiche Onlinezeitung „El Diario“. Für das Wunder müssten einige Abgeordnete der mauernden Opposition „umfallen“, indem sie sich in der Abstimmung enthalten, einfach nicht erscheinen oder sogar mit „Ja“ stimmen.