Kein Senatschef war so lange ununterbrochen im Amt wie Henning Voscherau. Von 1988 bis 1997 regierte er in wechselnden Konstellationen die Stadt. Er erkannte früher als andere in seiner Partei, welche Chancen die Wiedervereinigung für Hamburg bot, und nutzte sie. Er befriedete die Hafenstraße und „erfand“ die HafenCity. Der überzeugte Sozialdemokrat, mit dem viele Linke in seiner Partei haderten, starb in der Nacht zum Mittwoch an den Folgen eines Hirntumors

Es war die Rolle seines Lebens, und ganz hat sie ihn nie mehr losgelassen: Henning Voscherau war von 1988 bis 1997 Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg. Kein anderer Senatspräsident war so lange ununterbrochen im Amt wie Voscherau. Der Jurist – Rechtsanwalt und Notar mit eigener Kanzlei in Sichtweite des Rathauses – verkörperte einen Typus des Stadtstaats geradezu perfekt: gediegen hanseatisch, formvollendet distinguiert, mit einem feinen, zu gelegentlichem Spott neigenden Humor ausgestattet, dabei prinzipienfest, aber, wenn es darauf ankam, meinungsstark und streitbar bis zur Schroffheit.

Er war der Stadt nicht nur verbunden, er war hier verwurzelt und kannte das Gemeinwesen und seine Menschen „wie seine Westentasche“. Geboren 1941, aufgewachsen in Wellingsbüttel, wo er später mit seiner Familie auch lebte, Abitur am renommierten Gymnasium Oberalster und Studium an der Universität. Am späten Dienstagabend ist Henning Voscherau im Alter von 75 Jahren gestorben.

Wer nach dem größten Erfolg im Leben des Politikers sucht, der stößt zwangsläufig auf den 2. Juni 1991. An diesem Tag errang die SPD überraschend die absolute Mehrheit bei der Bürgerschaftswahl. „Voscheraus Triumph“ titelte das Abendblatt, und in der Tat war das Ergebnis vor allem dem damals 49-jährigen Sozialdemokraten zuzuschreiben. Mit noch jugendlich wirkendem Charme hatte er einen robusten Wahlkampf mit Seitenhieben auf den damaligen Koalitionspartner FDP geführt und sich durchgesetzt. Voscherau nutzte den Amtsbonus, den er sich in den drei Jahren erworben hatte, seit er den weltläufigen Klaus von Dohnanyi (SPD) ohne Neuwahl abgelöst hatte.

Früher als andere in seiner Partei hatte Voscherau die Chancen erkannt, die sich aus der deutschen Einheit gerade für Hamburg ergaben, und sie entschlossen genutzt. Die Stadt gewann mit Mecklenburg nicht nur einen Teil ihres historischen Hinterlands zurück, der Hafen wurde wieder zur Drehscheibe für den Handel mit Ost- und Nordosteuropa. Und Voscherau hatte die seit 1987 bestehende Städtepartnerschaft mit Dresden nach dem Fall der Mauer konsequent ausgebaut – nicht zuletzt durch sein persönliches Verhältnis zum damaligen Dresdener Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer. Der Zufall wollte es, dass Hamburg im Jahr der deutschen Einheit turnusmäßig den Bundesratspräsidenten stellte. Voscheraus „außenpolitisches“ und repräsentatives Talent kamen in der Ausübung dieses Amtes sehr spürbar zur Geltung. Als einer der obersten politischen Vertreter Deutschlands stand er bei vielen offiziellen Anlässen in der ersten Reihe. Mit dem Wahlsieg von 1991 war Voscherau zugleich aus dem großen Schatten seines Vorgängers Dohnanyi herausgetreten. Für den Augenblick war vergessen, dass sein Start ins Bürgermeisteramt drei Jahre zuvor, vorsichtig ausgedrückt, holprig war. Einen Tag vor seiner geplanten Wahl in der Bürgerschaft hatte Voscherau Weggefährten und Gegner mit der Erklärung überrascht, dass für ihn mit der Übernahme des Bürgermeisteramtes seine bisherige Altersversorgung gewissermaßen in sich zusammenfalle. Voscherau forderte eine Absicherung für seine Familie, falls ihm etwas zustoße, vom ersten Tag als Bürgermeister an, statt erst nach vier Jahren. Erst nach Protesten auch aus seiner eigenen Partei machte Voscherau einen Rückzieher. Vielleicht trat hier in Voscherau der Notar zutage, für den die Wechselfälle des Lebens, gegen die man sich klugerweise beizeiten wappnet, tägliche Praxis sind. Manch einer war dennoch irritiert über Voscheraus Bedürfnis nach materieller Sicherheit für seine Familie.

Noch ein weiterer, heute weithin unbekannter Vorgang aus der Zeit vor der Wahl zum Bürgermeister kennzeichnet den Politiker Voscherau sehr genau. Als designierter Nachfolger von Klaus von Dohnanyi formulierte er am 20. Mai 1988 in einem fünfseitigen Brief an den damaligen SPD-Landesvorsitzenden und späteren Bürgermeister Ortwin Runde seine Bedingungen für die Übernahme der Regierungsverantwortung.

Kernpunkt war die Stärkung der Stellung des Bürgermeisters gegenüber der bis dahin sehr allmächtigen Partei: Der SPD-Landesparteitag sollte nicht mehr jeden einzelnen Senator in geheimer Wahl nominieren – das war ­durchaus das eine oder andere Mal schiefgegangen und hatte den jeweiligen Bürgermeister geschwächt. Voscherau verlangte nun, dass nur noch der Bürgermeister(kandidat) in geheimer Wahl bestimmt wird. Über die Vorschläge für die SPD-Senatoren sollte dagegen als Gesamtpaket offen abgestimmt werden. „Änderungsanträge sind nicht möglich“, forderte Voscherau ausdrücklich.

Man kann es schlicht auch so ausdrücken: Voscherau stellte die parteiinterne Machtfrage. Er wusste aus eigener Erfahrung und Beobachtung, wie Partei und Fraktion den für eine erfolgreiche Regierungsarbeit erforderlichen Spielraum des Bürgermeisters einschränken konnten. Voscherau hat die Machtfrage für sich entschieden. Diese Regelung gilt im Übrigen noch immer. Wer die beinahe schläfrige Ruhe in der heutigen Hamburger SPD mit dem Vorsitzenden und Bürgermeister Olaf Scholz an der Spitze erlebt, kann es sich kaum mehr vorstellen: Aber in den 1980er- und auch noch 1990er-Jahren attackierten sich die Flügel der Partei auf das Heftigste. Zwischen den Parteilinken und dem Mitte-rechts-Lager gab es sehr ins Persönliche gehende Animositäten, ja Feindschaften.

Voscherau, der dem Mitte-rechts-Lager angehörte, hatte die Sorge, dass ihm die Linken – Ortwin Runde war einer ihrer Protagonisten – ihre Politik diktieren könnten. So kennzeichnete ein tief sitzendes Misstrauen ausgerechnet gegenüber den eigenen Parteifreunden Voscheraus Politik von Anfang an. Dieses Misstrauen ließ ihn zu einem Taktiker der Macht werden, aber es ließ ihn bisweilen auch zaudern und zögern, weil er buchstäblich die Obstruktion und Rache seiner Genossen fürchtete.

Voscherau hat sich immer und zu Recht viel darauf zugute gehalten, dass er bei den Hamburgern beliebt und angesehen war. Er sah eine Allianz zwischen sich und den Bürgern häufig viel eher als zwischen sich und seiner Partei. Nebenbei bemerkt: Er war, wenig überraschend, immer ein Anhänger der Direktwahl des Ersten Bürgermeisters.

Viele Hamburger schätzten den brillanten Intellektuellen, seine Analysefähigkeit und seinen weiten politischen Horizont. Zugleich konnte er aber sehr volksnah sein und hatte wenig Berührungsängste, ohne je ins Kumpelhafte abzugleiten. Er stammte aus einer Schauspielerfamilie, sein Vater war der bekannte Ohnsorg-Schauspieler Carl Voscherau, sein Onkel der noch bekanntere Schauspieler Walter Scherau, der eigentlich auch Voscherau hieß. Und darstellerisches Talent hatte zweifellos auch der Nachkomme geerbt. Dem fiel es leicht, ins Plattdeutsche zu verfallen, wenn es passte. Oder er stellte sich auf eine Bühne mit der Ohnsorg-Legende Heidi Kabel und sang mit ihr voller Inbrunst vor 1000 Menschen die wahre Hamburg-Hymne „Ick heff mol ’nen Hamborger Veermaster sehn ...“.

An diesem populären Politiker führte in der Hamburger SPD schnell kein Weg mehr vorbei. Voscherau gelang es, die Allianz zwischen Arbeit und Kapital zu verkörpern, die in dieser Stadt so wichtig ist. Er hatte einen engen Draht zum jeweiligen Präses der mächtigen Handelskammer, und er war als Gesprächspartner bei den Wirtschaftsbossen geschätzt. Seine Politik durch die Jahre seiner Amtszeit als Bürgermeister war wirtschafts- und industriefreundlich. Ein Beispiel: Voscherau war entschieden für den Bau der Magnetschwebebahn Transrapid nach Berlin. Darüber geriet er mit den Linken in seiner Partei in heftigen und bisweilen lautstarken Streit. Bekanntlich wurde nichts aus dem Technologie-Vorzeigeprojekt.

Er setzte sich früh für die Airbus-Werkserweiterung auf Finkenwerder ein, die schließlich zur Teilzuschüttung des Mühlenberger Lochs führte. Er war für die Sicherung energieintensiver Arbeitsplätze etwa im Aluminiumwerk, dem Stahlwerk und nicht zuletzt der Norddeutschen Affinerie, heute Aurubis. Voscherau trat für große Infrastrukturprojekte wie die Hafenerweiterung Altenwerder, den Bau der vierten Elbtunnelröhre und der Hafenquerspange ein. Und auch damals ging es um die Vertiefung der Elbe. Das alles brachte ihn schon zum Teil in Gegensatz zu den Parteilinken, aber erst recht zu den Grünen. Mit Stolz hat Voscherau stets in Abgrenzung zu den viel zitierten „Enkeln Willy Brandts“ in der SPD davon gesprochen, er sei ein „Enkel Helmut Schmidts“. Mit dem im November 2015 verstorbenen Ex-Bundeskanzler und seiner Frau Loki verband Voscherau eine enge Freundschaft. Seine emotionale Seite zeigte Voscherau in seiner sehr persönlichen Trauerrede für Loki Schmidt 2010.

Zu den kuriosesten Kapiteln der politischen Nachkriegsgeschichte Hamburgs gehört eine Gerichtsentscheidung im Mai 1993, deren Opfer Henning Voscherau wurde. Das Hamburgische Verfassungsgericht erklärte die Bürgerschaftswahl von 1991 für ungültig, die der SPD die absolute Mehrheit gebracht hatte. Der Grund war die aus Sicht der Richter undemokratische Kandidatenaufstellung ausgerechnet beim Wahlverlierer CDU. Die Konsequenz: Neuwahlen. Voscherau sah sich zu Recht der Hälfte der Legislaturperiode beraubt, warf sich aber sofort unverdrossen in den Wahlkampf.

Das Ergebnis fiel für ihn und die SPD ernüchternd aus: Die absolute Mehrheit war weg, aber die SPD blieb stärkste Partei und hatte die Wahl zwischen zwei Regierungspartnern: den Grünen und – als neuer Kraft – der Statt-Partei, die von den sogenannten „CDU-Rebellen“ um Markus Wegner gegründet worden war und knapp den Sprung in die Bürgerschaft schaffte.

Die folgenden Wochen boten einen politischen Krimi und führten die SPD in eine neue Zerreißprobe. Voscherau war für ein Bündnis mit der bürgerlichen Statt-Partei, weite Teile der SPD, namentlich der Linken, wollten es mit den Grünen wagen. Der SPD-Landesvorstand entschied sich mit der knappen Mehrheit von 13:11 Stimmen für Koalitionsverhandlungen mit den Grünen gegen die geradezu beschwörenden Warnungen Voscheraus. Er selbst hatte an der Abstimmung gar nicht teilgenommen, weil er in dem Moment die Toilette aufgesucht hatte.

Voscherau bot seinen Rücktritt an, der Landesvorstand lehnte ab. War es Pflichtgefühl oder die Angst vor der eigenen Courage? Der Bürgermeister tat jedenfalls, was er eigentlich nicht wollte. Voscherau führte Koalitionsverhandlungen mit den Grünen und hatte doch nur ein Ziel: eine solche Koalition zu verhindern. Er befürchtete, dass die SPD im Bündnis mit den Grünen ihre Identität verlieren könnte.

Am Anfang präsentierte Voscherau den Grünen ein neunseitiges, persönliches Eckpunktepapier, die berühmten „Essentials“. Das waren seine Bedingungen für eine Einigung mit den ungeliebten Grünen. Motto: „Kein spielerischer Umgang mit den Grundfunktionen der Stadt“. Alle großen Infrastrukturprojekte fanden sich darin ebenso wie ein drastischer Ausbau der Müllverbrennung, für die Grünen ökologisches Teufelszeug. Und nicht zu vergessen: Voscherau forderte die Fortsetzung des Wegs „der rechtsstaatlichen Beendigung des Hafenstraßenprojekts“. Die Grünen hatten sich kategorisch gegen eine Räumung der Häuser am Hafenrand ausgesprochen. Es war ein Katalog von Unannehmbarkeiten für die Öko-Partei, und nach Wochen quälender Verhandlungen machten sie dem Spuk ein Ende. „Henning Voscherau blinkt links, biegt aber rechts ab“, bemerkte die Grünen-Spitzenkandidatin Krista Sager trocken.

Voscherau hatte sich kraftraubend durchgesetzt, und die Partei folgte ihm, wenn auch zähneknirschend. In relativ kurzer Zeit wurde die „Kooperation“ genannte Vereinbarung mit der Statt-Partei geschmiedet, die keine eigenen Mitglieder, sondern zwei parteilose Experten in den Senat schickte.

Die Statt-Partei war ein Sammelbecken von politikunerfahrenen Idealisten, nur wenige hatten wie Markus Wegner einer anderen Partei angehört. Der große Druck, den die Regierungsbeteiligung gerade für eine neue Gruppierung bedeutet, führte bald zu Zerwürfnissen in der Statt-Partei. Wegner überwarf sich bald mit den anderen Abgeordneten und spaltete sich mit wenigen Getreuen ab. Die Statt-Partei verlor den Fraktionsstatus und war nur noch eine Gruppe. Die Regierungsmehrheit hing an einem seidenen Faden, aber sie hielt bis zum regulären Wahltermin 1997 – nicht zuletzt dank Voscherau und der SPD.

Der Bürgermeister bewies im Februar 1994 Flexibilität und Augenmaß für die Stimmungslage in der Stadt bei einem Thema, bei dem man ihm das am wenigsten zutrauen durfte: der Hafenstraße. Voscherau hatte die rechtsstaatliche Räumung der Häuser betrieben, seit es dort zu schweren Straftaten gekommen war. Doch nun, als so gut wie alle Räumungstitel durch die Instanzen erstritten waren, bot er den Bewohnern eine letzte Chance. Wenn sie die sogenannte Randbebauung neben ihren Häusern akzeptierten, unter anderem ging es um die Erweiterung der heutigen Stadtteilschule St. Pauli und eine Kindertagesstätte, dann würde die Stadt auf die Vollstreckung der Titel verzichten.

Voscherau befriedete den Konflikt um die Hafenstraße

Ganz freiwillig kam Voscheraus Kurswechsel nicht. Die Statt-Partei und Teile der SPD setzten eher auf Gespräche und eine friedliche Lösung. Auch Voscherau war nicht über die Maßen versessen auf eine gewaltsame Räumung, die unweigerlich eine Solidaritätswelle in halb Europa zur Folge gehabt hätte. „Ein solcher Bürgerkrieg, 5000 Polizisten gegen 5000 Autonome, da gibt es Tote. Ja, was wollen Sie da machen?“, sagte Voscherau in einem Interview rückblickend viele Jahre später. Und sein tatsächlich ja erfolgreiches Angebot an die Bewohner fasste er in einem typischen Voscherau-Satz so zusammen: „Wenn friedlich, dann wohnen, wenn nicht, dann nicht – bezogen auf eine unbehinderte, gewaltfreie Baustelle.“ Was viele dem konservativen Sozialdemokraten nicht zugetraut hatten, war geschehen. Voscherau hatte den Hafenstraßen-Bewohnern die Hand gereicht, jedenfalls indirekt.

Doch auch die Hafenstraßen-Volte konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Riss zwischen Voscherau und dem Mitte-rechts-Lager auf der einen Seite und den Linken auf der anderen größer wurde. Mehrfach gerieten beide Lager so hart aneinander, dass Gerüchte über Rücktrittsdrohungen Voscheraus kursierten. Ein von ihm selbst gern wiederholter, in typischer Weise leicht verklausulierter Satz lautete: „Eine Anti-Voscherau-Politik mit Voscherau an der Spitze wird es nicht geben!“

Der Bürgermeister blieb im Amt, dafür trat mit Innensenator Werner Hackmann (SPD) im Oktober 1994 eine Säule der Regierung zurück. Es war die Überreaktion eines zermürbten Politikers, aber sie löste ein politisches Beben mit weitreichenden Folgen aus. Hackmann übernahm die Verantwortung für angebliche rechtsextreme und ausländerfeindliche Tendenzen in der Polizei und einen „unseligen Korpsgeist“, der Strafverfolgung verhindere. Die meisten Vorwürfe fielen hinterher in sich zusammen, aber hier nahm eine zunehmende Distanzierung zwischen der Hamburger Polizei und der regierenden SPD ihren Ausgang. Das Thema Innere Sicherheit sollte in den folgenden Jahren eine größere Rolle spielen und die SPD 2001 schließlich die Macht kosten und einen gewissen Ronald Schill ins Amt bringen. Doch so weit war es noch nicht.

Seinen größten Coup landete Voscherau kurz vor Ende der Legislaturperiode: Am 7. Mai 1997 präsentierte der Bürgermeister der erstaunten Öffentlichkeit die „Vision HafenCity“ – einen neuen, zentrumsnahen Stadtteil dort, wo alte Hafenbecken längst nicht mehr genutzt werden. Nach dem Vorbild der Londoner Docklands sollen Wohnen und Arbeiten direkt am Strom möglich sein. Fast vier Jahre sollten bis zum ersten Spatenstich vergehen, da war Voscherau längst nicht mehr im Amt. Heute ist die HafenCity zur Attraktion nicht nur für Touristen geworden, nicht zuletzt natürlich auch dank der Elbphilharmonie.

Es ist Voscheraus bleibendes Verdienst, diesen außergewöhnlichen städtebaulichen Prozess angestoßen zu haben. Aus einer Idee wurde das größte Stadtentwicklungsprojekt Europas – auf einer Fläche von 157 Hektar. „So oder so ähnlich habe ich mir die HafenCity vorgestellt“, sagte Voscherau aus Anlass seines 70. Geburtstags 2011. „Mir gefallen nicht alle Gebäude, aber im Prinzip bin ich einverstanden“, lautete das (alters)milde Urteil. Nur die Elbphilharmonie gefiel ihm nicht. „Ich wollte wie in Sydney eine spektakuläre Oper, halb an Land, halb im Wasser, weiter östlich in Richtung Elbbrücken“, vertraute er der „Bild“-Zeitung an.

Auch wenn die Sympathiewerte für den Ersten Bürgermeister in der Bevölkerung nach wie vor hoch waren, so war eines doch nicht zu übersehen: In diesen Jahren wurde der Graben zwischen Voscherau und Teilen der SPD immer tiefer und eigentlich unüberbrückbar. Voscherau regierte längst mit wiederholten Drohgebärden. Mal knüpfte er sein Verbleiben im Amt an die strikte Einhaltung des von ihm vorgegebenen Sparkurses, dann wollte er mit der Rücktrittsdrohung die Bezirks- und Verwaltungsreform durchsetzen.

Aber es gab auch Phasen der Resignation. Heute unvorstellbar: Weil sich Voscherau im Senat (!) beim Streit über das neue Schulgesetz mit seiner Forderung nach einem klaren Bekenntnis zum Leistungsgedanken nicht gegen Schulsenatorin Rosemarie Raab (SPD) durchsetzen konnte, ließ er sich überstimmen. Zusammen mit wenigen Getreuen gab er dann die abweichende Meinung zu Protokoll. Üblicherweise werden Meinungsverschiedenheiten im Senat vor einer Entscheidung geklärt. In solchen Momenten war Voscherau anzumerken, wie sehr er unter seiner Aufgabe litt, aber andererseits seine Überzeugungen auch nicht verhehlen konnte.

Dem Autor dieser Zeilen bleibt unvergessen, wie Voscherau sechs Jahre (!) nach seinem Rücktritt zu nächtlicher Stunde ins Springer-Gebäude geeilt kam, um in einer nicht enden wollenden Suada, zum Teil bebend vor Zorn und völlig verbittert, mit seiner Partei, besser gesagt: einem Teil seiner Parteifreunde abzurechnen. Vieles von dem, was er im Vier-Augen-Gespräch mit Blick auf das erleuchtete Rathaus sagte, war nicht druckbar. Zu lesen war am Tag darauf unter anderem dieser Satz: „Ich habe ein sehr gefühlsbetontes und herzliches Verhältnis zur SPD, auch zur Hamburger SPD. Es gibt aber nun einmal seit 25 Jahren das Problem, dass rund 150 einflussreiche Funktionsträger mich wegen meiner Linie und meines Einflusses bekämpfen und anfeinden. Davon können sie auch sechs Jahre nach meinem Abgang nicht lassen.“

Noch 2012 sprach Voscherau rückblickend von „bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen“ in der Hamburger SPD, bei denen er „auf der falschen Seite der Barrikade gestanden“ habe. Ein „68er“, wie so viele seiner Generation, war dieser Sozialdemokrat nie. Er habe, erzählte Voscherau einmal, in den 80er-Jahren in der Hamburger SPD den Spruch gehört: „Der Klassenfeind steht mitten in der SPD und heißt Henning.“

Auch wenn in manchen Äußerungen ein wenig Eitelkeit und Selbststilisierung durchscheinen, wozu dieser kluge Mann durchaus bisweilen neigte, im Kern war das Tischtuch zwischen ihm und den „150 Funktionsträgern“ 1997 längst zerschnitten. Nun kam etwas hinzu, was für die Zukunft der SPD entscheidend werden sollte. Voscherau spürte im Wahlkampf, dass sich die Stimmung in der Stadt gedreht hatte. Vor allem in den klassischen SPD-Hochburgen, den früheren Arbeiterstadtteilen, machte sich Frust breit. Der Anstieg der Kriminalität, die Drogenthematik und auch der gestiegene Ausländeranteil infolge der Balkankriege – viele trauten der SPD nicht mehr zu, die daraus resultierenden Probleme zu lösen.

Voscherau reagierte nach einem für ihn typischen Muster: Er warf seine Popularität in die Waagschale und knüpfte sein Verbleiben im Amt als Bürgermeister im Falle eines Wahlerfolgs an das Ergebnis für die SPD. Das war seine „persönliche Schmerzgrenze“, unterhalb derer er zurücktreten wollte, selbst dann, wenn die SPD weiterregieren könnte. Manch einer fühlte sich da erpresst ... Obwohl Voscherau die Schmerzgrenze nie öffentlich exakt bezifferte, zog er noch am Wahlabend die Konsequenz, genau wie er es angekündigt hatte. Die SPD verlor 4,2 Prozentpunkte und sackte auf 36,2 Prozent ab. Die rechtsextreme DVU scheiterte mit 4,98 Prozent nur hauchdünn am Einzug in die Bürgerschaft. In Hamm, Rothenburgsort oder Wilhelmsburg waren die DVU-Ergebnisse zweistellig.

Sein Abgang wurde zum bundesweiten Paukenschlag

Es war ein bühnenreifer Auftritt des Schauspielersohnes vor laufender Kamera der „Tagesschau“ an diesem 21. September 1997. Das DVU-Ergebnis spiegele die „brachiale Grundstimmung wider, die ich schon während des ganzen Wahlkampfes erschreckend erlebt habe“, sagte Voscherau. Er habe es nicht geschafft, die Stimmung zu drehen. „Da meine Schmerzgrenze unterschritten ist, werde ich nicht erneut für das Amt des Ersten Bürgermeisters kandidieren. Meiner Heimatstadt Hamburg wünsche ich Glück. Sie kann es brauchen.“ Abgang. Ein bundesweiter Paukenschlag.

Vier Jahre später war Ronald Schill an der Macht, und die SPD saß nach 44 Jahren erstmals wieder in der Opposition. Die Partei hatte die Lektion in der inneren Sicherheit und der entschlossenen Kriminalitätsbekämpfung nicht gelernt. Voscherau hatte all das vorausgesehen. Er, der noble Hanseat im feinen Zwirn, kannte die „kleinen Leute“, deren Gefühle und Einstellungen gut.

Vielleicht lag es daran, dass er aus solchen Verhältnissen stammte. Sein Großvater war Hafenarbeiter und aktiver Sozialdemokrat mit Wohnsitz auf St. Pauli. Er und Voscheraus Eltern, auch sie Sozialdemokraten, wurden 1933 von den Nazis gefeuert und litten in den ersten Jahren der Diktatur Hunger. In einem Interview erzählte Voscherau einmal, nur der große Freundeskreis der Familie habe dafür gesorgt, dass sie durchkamen.

Voscherau war kühler Analytiker und großer Mahner, der düstere Visionen an die Wand malen konnte, in einem. Er sah es so, dass er mit seinen Warnungen vor dem Rechtsruck der „kleinen Leute“ an den Parteilinken gescheitert war. Seine Kritiker warfen ihm vor, dass er sich angesichts seiner starken Stellung nicht durchgesetzt habe. Voscherau selbst war im Gegensatz zu vielen anderen Spitzenpolitikern zu Selbstkritik fähig. „Wenn ich mir die Frage stelle, ob ich mich in den vier Jahren seit 1993 mutig genug gestritten habe, ob ich an dem Bürgerzorn von 1993 drangeblieben bin, dann lautet die Antwort nein. So gesehen ist das Wahlergebnis gerecht“, sagte Voscherau unmittelbar nach dem Rücktritt im Abendblatt.

Nach dem Rücktritt schob er den Bürostuhl zurück ins Notariat

Wer heute den Aufstieg der Alternative für Deutschland (AfD) beobachtet und sieht, dass die Partei klassische SPD- (und natürlich auch CDU-)Wähler anlockt, kommt nicht umhin zuzugestehen, dass Voscheraus Thema von einst nach wie vor verblüffend aktuell ist.

Voscherau inszenierte seinen Rückzug aus der Politik auf seine Art: Er schob seinen Bürostuhl aus seinem Arbeitszimmer im Rathaus medienwirksam zurück in sein Notariat am Alstertor, wo er fortan wieder arbeitete. Nachdem er 1988 zum Bürgermeister gewählt worden war, hatte er den Weg mit Stuhl in umgekehrter Richtung zurückgelegt. Für die alte Stadtrepublik Hamburg war dieser Wechsel zwischen öffentlichem Amt und Beruf immer charakteristisch gewesen. Voscherau hatte dieses bürgerschaftliche Engagement vorgelebt. Als er zurücktrat, war er 56 Jahre alt – zu jung für das politische Altenteil. Voscherau genoss bundesweites politisches Renommee über die Parteigrenzen hinweg. Und doch: Ein herausragendes politisches Amt hat er nie wieder bekleidet. Eine Zeit lang sah es 1998 so aus, als ob er in den Bundestag wechseln würde. Nicht unüblich für ehemalige Hamburger Bürgermeister: Max Brauer saß ebenso im Bundestag wie Hans-Ulrich Klose und später auch Voscherau-Nachfolger Ortwin Runde. Doch ehe seine Kandidatur so richtig Auftrieb bekommen hatte, sagte Voscherau etwas beleidigt ab. Wieder waren es die Linken in seiner Partei, mit denen er sich nicht zusammenraufen konnte oder wollte. Voscherau war ein komplizierter, im direkten Umgang bisweilen in sehr traditionellen Konventionen denkender und anspruchsvoller Mensch und Politiker.

Ein Angebot des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder, als Wirtschaftsminister in das Bundeskabinett einzutreten, schlug Voscherau aus. Gereizt hätte den parkettsicheren Politiker, der ein geschliffenes Englisch sprach, das Auswärtige Amt. Und 2012 nach dem Rücktritt von Christian Wulff (CDU) als Bundespräsident war Voscherau als dessen Nachfolger im Gespräch.

Und auch Hamburg blieb eine Option: Zweimal war Voscherau sehr ernsthaft als Bürgermeisterkandidat der oppositionellen SPD im Gespräch. Wohlmeinende Genossen pilgerten 2003 zu Voscherau, der lange sich bitten ließ, zögerte, um dann schließlich doch abzusagen. Und 2005 sagte Voscherau, er stünde als „Joker“ zur Verfügung. Doch da war die Zahl derer, die ihn nicht mehr wollten, zu groß – auch im Mitte-rechts-Lager. Der Bürgermeister-Posten war ihm auf den Leib geschneidert, und er sehnte sich wohl insgeheim zurück ins Rathaus. Auch deswegen hat er nie den einen klaren Satz über die Lippen bringen können: „Ich stehe nicht mehr zur Verfügung.“

Ihm hat die Rücktrittsentscheidung leidgetan. „Ich wollte unbedingt Bürgermeister des Jahres 2000 sein“, vertraute er einmal Schülern in einem Interview an. Dennoch hat er die Demission für richtig gehalten. Ein rot-grünes Bündnis hätte es mit ihm wegen der Grünen nicht geben können. „Ich war ihr Feind Nummer eins, sie hätten den Widerstand gegen meine Politik nicht aufgegeben“, behauptete er 2001.

Das ist die Tragik des Henning Voscherau: So sehr er die Feindschaft der Andersdenkenden in der eigenen Partei und bei den Grünen beklagte, so sehr war er doch Teil dieses Freund-Feind-Denkens und baute selbst auch Hürden auf. Knapp zwei Jahrzehnte nach Voscheraus Rücktritt als Bürgermeister sind die Grünen längst eine andere Partei geworden. Olaf Scholz’ wirtschaftsfreundlicher Kurs unterscheidet sich nicht sehr von dem Henning Voscheraus – für die mitregierenden Grünen heute keine Hürde mehr. Man kann das auch als späten Erfolg der Voscherauschen Realpolitik sehen.

Eine große Stadt mit den bisweilen brennpunktartig zugespitzten Problemen und den sehr unterschiedlichen sozialen Milieus gut zu regieren, zählt zu den anspruchsvollsten Herausforderungen heutiger Politik. Nicht nur wegen der hohen Schlagzahl tagesaktuell wechselnder Themenlagen, sondern vor allem auch deswegen, weil ein Bürgermeister fast zwangsläufig in der Nähe der Bürger ist und sein muss, wenn er klug handelt. In einer Stadt sind die Wege kurz und die Zahl der Begegnungen reichlich. Mehr denn gilt der Bürgermeister vielen als der Repräsentant und Vertreter „der“ Politik generell und muss immer wieder vielfältigen Ansprüchen und durchaus gegenläufigen Interessenlagen begegnen. Es ist, das darf gesagt werden, auch ein verzehrendes Amt.

Sich angesichts dieser Ausgangssituation nicht in Klein-Klein zu verlieren, sondern über den Tellerrand des gerade Erforderlichen hinauszublicken, zeichnet einen großen Bürgermeister aus. Voscherau hat weitsichtige Entscheidungen getroffen und auch gegen Widerstände durchgesetzt.

Geholfen hat ihm dabei auch die Erfahrung des passionierten Hockeyspielers, der er jahrzehntelang war und dessen Spielstil er selbst gelegentlich als „beinhart“ bezeichnete. Und Voscherau hat historische Chancen schnell erkannt und zum Wohle der Stadt beherzt genutzt - Stichwort Mauerfall und Deutsche Einheit. Er hat die Rolle Hamburgs in der Bundespolitik gestärkt und den europäischen Zusammenhang gesehen. In diesem Sinn verliert Hamburg mit Henning Voscherau einen großen Bürgermeister. Es kommt hinzu, dass Henning Voscherau bei allen Verdiensten um die Stadt vor allem immer eines war und aus Überzeugung geblieben ist: durch und durch Hamburger.