Kairo.

Der schlaksige Halbwüchsige im Trikot des Barcelona-Stars Lionel Messi fiel kurdischen Polizisten in der irakischen Stadt Kirkuk auf, weil er bei der Kontrolle plötzlich anfing zu schluchzen. Unter seinem T-Shirt steckte ein weißer Sprengstoffgürtel. Zwei Uniformierte hielten den Jungen sofort an seinen Armen fest und holten Peschmerga-Spezialisten zu Hilfe. Die schnitten mit einer Zange Kabel und Halterungen durch. Als der Gürtel zu Boden fiel, zerrten die Männer den Jungen schnell weg, während Schaulustige und Ladenbesitzer erleichtert applaudierten. Mit verstörtem Blick starrte der Teenager in die Nacht, sein Barcelona-Shirt mit der gelben Nummer zehn lag zerrissen auf dem Asphalt. Dann schoben ihn die Beamten in einen Polizeiwagen, wo der Kleine mit bloßem Oberkörper erneut anfing zu weinen, und fuhren davon.

Bei der Polizei habe der Junge ausgesagt, sein Vater habe ihm den Auftrag für das Attentat gegeben, meldete der Sender weiter. Dem Jungen zufolge hatte sich bereits sein Bruder bei einem Selbstmordanschlag in Kirkuk in die Luft gesprengt. Anwohner vermuten, dass er die Bombe während des Abendgebetes in einer nahe gelegenen schiitischen Moschee zünden wollte. Und vieles deutet darauf hin, dass auch in Kirkuk – wie tags zuvor bei der Explosion inmitten einer Hochzeitsgesellschaft im türkischen Gaziantep – die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) dahintersteckt. In Gaziantep hatte sich am Sonnabend ein etwa zwölf- bis 14-Jähriger unter die Gäste gemischt, die auf der Straße feierten. 51 Menschen starben. Das Brautpaar überlebte leicht verletzt.

Kinder werden in den Schulen der Extremisten infiltriert

In Kirkuk wurde der rechtzeitig entschärfte Gürtel später an einem sicheren Ort gezündet. Für einige Sekunden erhellte ein greller Blitz die nächtlichen Straßen und demonstrierte den Bewohnern, wie knapp ihre Stadt einem ähnlichen Massaker wie in Gaziantep entkommen war. „Der ‚Islamische Staat‘ mobilisiert Kinder und Jugendliche in einem wachsenden und beispiellosen Maße“, urteilt die bisher einzige Studie zu dem Thema, die von der Georgia State University in Atlanta erarbeitet wurde. Dazu werteten drei Forscher 89 Twitterfotos und -videos aus, auf denen Kinder und Jugendliche im Alter zwischen acht und 18 Jahren als sogenannte IS-Märtyrer gefeiert werden.

Etwa 40 Prozent ihrer Gewalttaten sind Selbstmordattentate mittels Autobomben. 33 Prozent der Halbwüchsigen starben auf dem Schlachtfeld, 18 Prozent nahmen an Operationen teil, bei denen Kämpfer hinter die Linien ihrer Gegner einsickern und sich dann gemeinsam in die Luft sprengen. Die weit überwiegende Zahl der dokumentierten Kinderattentate richtete sich gegen Polizisten, Soldaten oder Milizionäre. Lediglich in drei Prozent der Fälle sprengten sich Jugendliche inmitten von Zivilisten in die Luft.

Solche Aktionen sind „eine sehr effektive Form von psychologischer Kriegsführung“, urteilen die Wissenschaftler, die mit zunehmenden IS-Einsätzen von Minderjährigen rechnen. Denn der Zustrom ausländischer Dschihadisten über die Türkei ging in den vergangenen Monaten stark zurück, seit eine kurdisch-arabische Streitmacht mit US-Luftunterstützung die IS-Nachschubwege erobert und kappt. Zudem wurde die Zahl der Kämpfer durch permanente Luftangriffe sowie eine Serie von militärischen Niederlagen spürbar dezimiert – in Fallujah, Ramadi und Sinjar auf irakischer Seite sowie in Manbij und Palmyra auf syrischer Seite.

Nach Angaben des US-Oberkommandos im Nahen Osten verfügt der IS in Syrien und Irak noch über 15.000 bis 20.000 Bewaffnete, deren Kampfkraft jedoch spürbar nachgelassen hat.

Zehntausende Heranwachsende werden dafür seit Mitte 2014 in den Schulen des „Islamischen Kalifates“ indoktriniert. Die Schulbücher, die Hass und Verachtung für Andersgläubige lehren, stammen fast alle aus Saudi-Arabien. Obendrein entwickelte der IS eine spezielle Lern-App für „die Jungen des Kalifats“, das den Kleinen das arabische Alphabet auf Dschihadistenmanier beibringen soll. Jeder Buchstabe ist als Merkhilfe verknüpft mit einem Bild von Panzern, Gewehren, Granaten, Minen oder Schwertern.

Mit dieser diabolischen Praxis steht der IS im Nahen und Mittleren Osten keineswegs allein. Auch die Taliban in Pakistan unterhalten Anstalten, in denen sie minderjährige Selbstmordattentäter ausbilden. Die Huthis im Jemen setzen Kinder als Soldaten ein, die libanesische Hisbollah rekrutiert Jugendliche, um die Verluste auf dem syrischen Schlachtfeld auszugleichen. Keine der radikalen Organisationen jedoch setzt Kinder und Jugendliche so schockierend ein wie der IS. So zeigt eine Fülle von Videos maskierte Kinder oder Teenager, die vor ihnen kniende Soldaten oder angebliche Spione per Kopfschuss hinrichten.

Um den Schrecken noch zu steigern, wurden kürzlich in einem neuen IS-Propagandastreifen 1400 jesidische Kinder vorgeführt, die angeblich zu Selbstmordattentätern ausgebildet werden sollen, das Jüngste gerade einmal fünf Jahre alt. Denn immer noch befinden sich 3800 Jesiden in der Hand der Terroristen. Täglich kommen Menschen aus der IS-Sklaverei zurück, berichtet Baba Cawis, der religiöse Wächter des jesidischen Heiligtums im nordirakischen Lalisch. Der gefangene Nachwuchs seiner religiösen Minderheit ist jetzt bereits zwei Jahre der IS-Gehirnwäsche ausgesetzt. „Die Leute haben inzwischen Angst vor den eigenen Kindern, dass sie so gewalttätig werden wie der IS“, sagt er. „Denn Kinder – die sind wie ein offenes Buch.“