Lugano.

Nur einige Meter weiter südlich wäre ihr nichts passiert. Doch die Frau in der Nikab, die kürzlich in Chiasso unweit der Grenze zu Italien vor einem Restaurant von Polizisten angehalten wurde, befand sich noch auf dem Boden des Schweizer Kantons Tessin. Dort sind Burkas wie alle anderen Formen der Gesichtsverschleierung in der Öffentlichkeit seit dem 1. Juli verboten. Anstandslos zahlte die Frau 100 Franken (92 Euro) Strafe – und legte danach ihren Schleier ab.

Die Touristin aus Kuwait war die erste Frau, die für einen Verstoß gegen das Tessiner Burka-Verbot zur Kasse gebeten wurde. Weil sie mutmaßlich keine Kenntnis davon hatte, keinen Widerstand leistete und nicht als „Wiederholungstäterin“ einzustufen war, kam die Araberin mit der Mindestbuße davon.

Die Höchststrafe für Vollverschleierung im freien Raum beträgt im Tessin 10.000 Franken. Sie gilt für Burka- oder Nikab-Trägerinnen genauso wie für vermummte Hooligans oder Demonstranten. Lange hatten die Tessiner darüber gestritten. Ähnlich wie in Deutschland erklärten Befürworter, angesichts der Terrorgefahr könne eine Vollverschleierung nicht mehr akzeptiert werden. Andere forderten das Verbot, weil Burka und Nikab „Instrumente der Unterdrückung von Frauen“ seien. Gegner des Einsatzes von Polizisten als „Schleierlüfter“ warnten unter anderem vor Einbußen für die Tourismusindustrie. Das Tessin ist mit malerischen Bergen und Seen, mediterranem Klima und guter Küche eine beliebte Ferienregion. In großer Zahl kommen auch betuchte Touristen aus arabischen Ölstaaten in den Kanton.

Das hielt eine klare Mehrheit der Tessiner (65,4 Prozent) nicht davon ab, 2013 für ein strenges Burka-Verbot zu stimmen. Einen Monat nach dem Inkrafttreten im Juli 2016 zog der Kanton Bilanz - und gab Entwarnung: Mit der Durchsetzung des Verbots gebe es fast keine Probleme, erklärte der Polizeichef und Vizepräsident der Tessiner Metropole Lugano, Michele Bertini. Bußen seien seltene Einzelfälle.

Möglicherweise wird die polizeiliche „Enthüllungsmission“ nicht auf den Kanton Tessin beschränkt bleiben. Seit einigen Wochen läuft in der gesamten Schweiz eine Unterschriftensammlung für eine Volksabstimmung über ein nationales Verbot der Vollverschleierung.