Berlin.

Das deutsche Gesundheitswesen zählt schon jetzt zu den teuersten der Welt. In den nächsten Jahren wird es noch teurer – und die Folgen bekommen über 50 Millionen Bundesbürger so deutlich zu spüren wie noch nie: Der Zusatzbeitrag, den die Versicherten ohne Beteiligung der Arbeitgeber an ihre Krankenkasse zahlen müssen, dürfte sich innerhalb der nächsten vier Jahre mehr als verdoppeln. Die Mehrkosten sind happig: Ein Durchschnittsverdiener mit 2000 Euro Monatsbrutto müsste 2020 rund 400 Euro im Jahr mehr bezahlen als heute. Das hat der renommierte Gesundheitsökonom Jürgen Wasem, Professor an der Universität Duisburg-Essen, in einer neuen Studie errechnet.

„Die Ausgaben der Krankenversicherung steigen stärker als die Einkommen der Arbeitnehmer“, sagte Wasem im Gespräch mit dieser Redaktion. „Das ist ein genereller Trend durch medizinischen Fortschritt und die zunehmende Alterung – aber die Politik der großen Koalition hat den Trend noch verstärkt.“ Tatsächlich hat Schwarz-Rot mit kostspieligen Reformen den Druck auf die Kassen erhöht. Und nicht nur im Gesundheitswesen hat die Regierung die Schleusen geöffnet – teure Reformen gab es auch bei der Pflege und der Rente. Die Folge: Schon im kommenden Jahr dürften die Sozialabgaben erstmals seit langer Zeit wieder über der Marke von 40 Prozent des Einkommens liegen, der Trend zeigt weiter nach oben.

Die Wirtschaft schlägt bereits Alarm: „Die große Koalition hat sich von der guten Finanzlage der Sozialversicherung zu einer teuren und zum Teil rückwärtsgewandten Sozialpolitik verleiten lassen“, heißt es in einer aktuellen Analyse der Arbeitgeberverbände. Danach weiten die schwarz-roten Gesetze die Sozialleistungen in dieser Wahlperiode um 87 Milliarden Euro aus. Die Arbeitgeber sind bei den Sozialabgaben überwiegend mit im Boot, deshalb sind sie so besorgt. Allerdings: Von der Last steigender Gesundheitskosten sind sie derzeit befreit – was die Auswirkungen für die 54 Millionen Mitglieder der gesetzlichen Kassen noch verschärft.

Krankenkassen
Das Plus bei den Zusatzbeiträgen dürfte nach den Berechnungen des Gesundheitsökonomen Wasem stärker ausfallen, als von den Versicherungen bisher kalkuliert. Die großen Steigerungen haben mit einer von der Koalition durchgesetzten Systemänderung zu tun. Zum 1. Januar 2015 war der feste Kassenbeitragssatz von 15,5 Prozent um 0,9 Punkte auf 14,6 Prozent gesenkt worden. Jeweils die Hälfte bestreiten Arbeitnehmer und Arbeitgeber.

Benötigen die Kassen jetzt mehr Geld, müssen sie einen zusätzlichen Beitrag selbst bestimmen, den allein die Arbeitnehmer zahlen. 2015 lag dieser durchschnittliche Zusatzbeitrag bei rund 0,9 Prozent, in diesem Jahr haben zahlreiche Kassen den Beitrag schon erhöht, im Schnitt auf 1,1 Prozent. Bei einem Durchschnittsverdienst von aktuell 1960 Euro im Monat macht das knapp 22 Euro monatlich. Schon 2017 dürften nach Wasems Rechnung die Beitragssätze auf 1,28 Prozent steigen, der Durchschnittsverdiener zahlt dann 26 Euro im Monat. Für die Jahre ab 2018 erwartet der Experte dann kräftige Sprünge. Der durchschnittliche Zusatzbeitragssatz werde 2020 bei 2,4 Prozent liegen, mehr als doppelt so hoch wie heute. Der Durchschnittsverdiener müsste dann im Monat schon knapp 55 Euro zusätzlich zum allgemeinen Kassenbeitrag aufbringen, um die Kostensteigerungen der Kassen auszugleichen. Einziger Ausweg: Der Wechsel zu einer günstigeren Kasse, die einen niedrigeren Zusatzbeitrag erhebt.

Der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) macht unter anderem die jüngsten Reformen zugunsten von Ärzten und Kliniken verantwortlich für die Probleme. Zwar gibt es eine 10-Milliarden-Reserve im Gesundheitsfonds. „Aber die Ausgaben steigen schneller als die Einnahmen“, sagt GKV-Chefin Doris Pfeiffer. So seien die Honorare der Ärzte merklich gestiegen, die Krankenhäuser bekämen mehr Geld, die verbesserte Familienversorgung koste ebenfalls.

Auch die Arbeitgeberverbände klagen: „Ohne die teuren Leistungsausweitungen der vergangenen Jahre müsste der Zusatzbeitrag für die Versicherten nicht steigen“, heißt es in der neuen Analyse. Die in dieser Wahlperiode auf den Weg gebrachten Gesetze kosteten die Krankenkassen allein in den nächsten vier Jahren rund 10 Milliarden Euro.

Gesundheitsökonom Wasem urteilt vorsichtiger: „Das Geld ist zum Teil gut investiert – etwa wenn mehr für Krankenhauspersonal ausgegeben wird.“ Es gebe keine einfachen Lösungen, meint der Professor. Zwei Stellschrauben sieht er: Die Länder müssten sich stärker an den Investitionskosten der Krankenhäuser beteiligen. Zentral sei zudem eine Begrenzung der Arzneikosten.

Ähnlich sieht es SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach: „Die Möglichkeiten, den Ausgabenanstieg der GKV kurzfristig zu bremsen, sind begrenzt“, sagte Lauterbach dieser Zeitung. „Am ehesten könnten wir bei den Ausgaben für Arzneimittel sparen: Wir haben in Deutschland zum Teil relativ hohe Preise für bestimmte Medikamente und eine Überverschreibung. Aber das ist eine Aufgabe für die nächste Wahlperiode, mit der Union sind Korrekturen nicht möglich.“ Einsparungen bei den Krankenhäusern seien zwar möglich, „aber erst langfristig realisierbar“.

Die SPD drängt auch deshalb mit Unterstützung der Kassen und der Opposition darauf, die Zusatzbeiträge wieder abzuschaffen und zur paritätischen Finanzierung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern zurückzukehren: „Es ist ungerecht, dass die Arbeitnehmer jetzt alle Kostensteigerungen im Gesundheitswesen allein tragen müssen. Ihre Belastung steigt doppelt so stark wie bislang, weil sie auch den früheren Anteil der Arbeitgeber finanzieren“, sagte Lauterbach. Die Rückkehr zur paritätischen Finanzierung sei „eine Kernfrage sozialer Gerechtigkeit“. Zugleich müssten in einer Bürgerversicherung auch Beamte und Gutverdiener zur Finanzierung beitragen.

Doch mit der Union ist das kaum zu machen. Dort werden die neuen Berechnungen ohnehin mit Skepsis betrachtet. Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) ließ erklären, er gehe weiter von einem nur moderaten Anstieg der Kassenbeiträge aus. Es gebe für Panikmache keinen Anlass. Unionsgesundheitsexpertin Maria Michalk bezweifelte Wasems Prognose ebenfalls, betonte aber auch: „Eine immer bessere medizinische Versorgung ist nicht zum Nulltarif zu haben.“

Pflege
Der Beitragssatz war schon 2015 auf 2,35 Prozent (2,6 Prozent für Kinderlose) erhöht worden. Im kommenden Jahr steigt dieser Satz erneut auf 2,55 Prozent (2,8 für Kinderlose). Ein Durchschnittsverdiener mit 2000 Euro brutto zahlt dann 51 oder 56 Euro im Monat, noch einmal 4 Euro mehr als bisher. Mit diesem Zuschlag wird die Ausweitung der Leistungen für die mehr als 2,5 Millionen Pflegebedürftigen finanziert.

Rente
Noch ist die Rentenkasse mit Rücklagen von 34 Milliarden Euro gut gefüllt. Doch die Reserve wird zügig schwinden. Nach der Ausweitung der Mütterrente und der neuen Frührente mit 63 Jahren plant die Koalition 2017 mit der Lebensleistungsrente noch eine weitere Wohltat. Auch die geplante Rentenangleichung zwischen Ost und West könnte die Rentenkasse anfangs rund 5 Milliarden Euro jährlich kosten. Der Beitragssatz von 18,7 Prozent wird deshalb nach Expertenschätzungen ab 2019 zügig steigen, 2020 dürfte er bereits bei 22 Prozent liegen.