Goslar.

Ein kühler Sommermorgen im Harz: Kurz nach acht Uhr kommt Sigmar Gabriel auf den Marktplatz der Kaiserstadt Goslar, die er seit seiner frühen Kindheit kennt. Er setzt sich vor ein Café – und holt zum Rundumschlag aus.

Immer weniger Bürger beteiligen sich an Wahlen, immer mehr verlassen die politischen Parteien. Besonders hart trifft es die SPD, die auch in Umfragen abstürzt. Wie erklären Sie sich diesen Vertrauensverlust, Herr Gabriel?

Sigmar Gabriel: Das hat sicher mehr als einen Grund. Und natürlich gehören dazu auch Fehler, die Parteien und Politiker machen. Das beginnt bei vollmundigen Wahlversprechen, die nach der Wahl nicht gehalten werden. Die Enttäuschung bei Wählern ist dabei ja programmiert. Deshalb hat die SPD gesagt: lieber weniger versprechen, aber dafür alles halten. Wir zeigen gerade, dass das geht. Wir halten jedes Versprechen ein, dass wir mit dem Eintritt in die Bundesregierung gegeben haben. Vom Mindestlohn bis zu Bildungsinvestitionen. Aber man muss auch selbstkritisch sagen: Manche Politiker verhalten sich so, dass die Leute den Kopf schütteln und sich fragen, was die da eigentlich machen. Aktuelles Beispiel ist die Montblanc-Affäre ...

... in der mehr als 100 Bundestagsabgeordnete, unter ihnen auch Parlamentspräsident Lammert, Luxus-Schreibgeräte der Marke Montblanc für insgesamt fast 70.000 Euro auf Kosten der Steuerzahler bestellt haben.

Die müssen doch einen Knall haben! Es ist gefährlich für die Demokratie, wenn der Eindruck entsteht: die da oben, wir da unten. Als Abgeordneter muss man wirklich nicht zwingend mit einem sündhaft teuren Füller schreiben. Es gibt auch preiswerte. Und ein Kuli tut’s auch. Aber das ist nur die Oberfläche. Die Menschen merken, dass die ganzen Versprechungen der Globalisierung, der Liberalisierung der Märkte und des Wettbewerbs für viele nicht zu einem besseren Leben geführt haben, sondern die Gesellschaft insgesamt Sicherheit gekostet haben. Dafür werden gerade die etablierten Parteien verantwortlich gemacht. Die Menschen reagieren mit Nichtwählen oder dem Wählen radikaler Kräfte. Wir müssen in Deutschland endlich wieder mehr Sicherheit schaffen. Soziale Sicherheit genauso wie innere Sicherheit.

Viele nehmen bei den Regierungsverantwortlichen einen Kontrollverlust wahr – besonders in der Flüchtlingskrise …

Die Bürgermeister in meinem Wahlkreis sagen mir, dass die Flüchtlingskrise inzwischen beherrschbar ist. Wir haben bei Weitem nicht mehr die Zuwanderungszahlen, die wir vor einem Jahr hatten. Aber natürlich hat der Zustrom eine Verunsicherung ausgelöst, die nicht weg ist. Und es gibt weitere Herausforderungen, bei denen die Bürger verunsichert sind: die Banken- und Eurokrise, die Entwicklungen in Russland und der Türkei, der Austritt Großbritanniens aus der EU, die Terroranschläge im eigenen Land. Insgesamt entsteht der Eindruck, die Regierung habe den Kurs verloren. Aber angesichts der Dramatik, mit der sich die Welt verändert, hat die große Koalition das Schiff Deutschland ziemlich gut gesteuert.

Sie stimmen der Kanzlerin also zu: Wir schaffen das.

Der Satz klingt schön, aber er reicht nicht aus. Eigentlich muss der Satz lauten: Wir machen das! Und genau da liegt der Fehler von Angela Merkel und ihrer CDU/CSU: Man kann nicht eine Million Flüchtlinge nach Deutschland lassen und sich dann weigern, die Voraussetzungen für Bildung, Ausbildung, Arbeit und auch für die innere Sicherheit zu schaffen. Wir Sozialdemokraten mussten lange darum kämpfen, bis die Union endlich bereit war, den Städten und Gemeinden zu helfen – und bis CDU und CSU einem Integrationsgesetz mit entsprechenden Finanzmitteln endlich zugestimmt haben. Und erst jetzt beginnt auch die Union darüber nachzudenken, was wir zusätzlich bei der Bundespolizei brauchen. Wir drängen sie dazu seit einem Jahr, und es bedurfte des Drucks der SPD, damit wenigstens 3000 zusätzliche Polizeistellen geschaffen wurden. Wir haben unendlich viel Zeit verloren. Einfach mal sagen „Wir schaffen das“ und dann die Sache laufen lassen, ist ein großer Fehler gewesen.

Ein Fehler, der die AfD stabilisiert?

Die AfD selbst wird an Zustimmung verlieren, wenn wir ihnen den Boden für ihre Propaganda entziehen. Statt für mehr Steuergerechtigkeit einzutreten, schimpft sie auf Ausländer. Statt für mutige Reformen einzutreten, macht sie Flüchtlinge verantwortlich. Das ist Klassenkampf an die falsche Adresse. Die soziale Frage ist nicht Deutscher oder Ausländer, Christ oder Muslim, sondern reich und arm, soziales Gewissen oder gewissenlos. Da muss man sich auch mit den Mächtigen anlegen. Dafür aber ist die AfD zu feige.

Die ersten Terroranschläge in Deutschland, zu denen sich der IS bekennt, wurden von Asylbewerbern verübt. Das spielt den Rechtspopulisten in die Karten …

Die Attentate zum Beispiel in Frankreich oder Belgien sind ja gerade nicht von Flüchtlingen begangen worden. Sondern von Menschen, die in Stadtteilen aufgewachsen sind, in denen seit Jahrzehnten Ausgrenzung und Parallelgesellschaften existieren. Das darf man nicht zulassen. Auch in München hatten wir es mit einem psychisch gestörten, offensichtlich rechtsradikalen Amokläufer zu tun. Aber natürlich ist Deutschland auch Attentatsziel des IS. Daher müssen wir aufpassen, wer zu uns kommt. Außerdem brauchen wir endlich einen besseren Datenaustausch der Sicherheitsbehörden in Europa.

Bundesinnenminister de Maizière und seine Unionskollegen in den Ländern wollen eine Sicherheitsoffensive starten. Können sie auf Ihre Unterstützung zählen?

Es war richtig, dass sich Herr de Maizière klar gegen Aktionismus und Populismus ausgesprochen hat. Der Vorschlag, die doppelte Staatsbürgerschaft wieder abzuschaffen, kommt einem Generalverdacht gleich. Wer die Integrationserfolge der letzten Jahre nicht anerkennt, betreibt das Geschäft des türkischen Präsidenten Erdogan, der seinen Konflikt nach Deutschland tragen will. Wir brauchen mehr, nicht weniger Integration. Gut finde ich, dass die Union endlich bereit ist, der Bundespolizei mehr Personal und Material zu geben. Genau das hat die SPD schon im Januar beschlossen. Darauf kommt es an – und nicht auf die alberne Debatte über einen Bundeswehreinsatz im Innern.

De Maizière schließt nicht aus, die ärztliche Schweigepflicht zu lockern ...

Ich bin sicher, auch das wird schnell vom Tisch sein. Schon heute ist es ja so, dass ein Arzt die zuständigen Behörden informieren kann – je nachdem, wie groß die Gefahr für die Allgemeinheit ist.

Vertrauen hat die Politik auch im Umgang mit den geplanten Freihandelsabkommen TTIP und Ceta verspielt. Haben Sie selber Fehler gemacht?

Wenn es ein Land gegeben hat, das gegen den Widerstand der EU-Kommission für mehr Transparenz in den Verhandlungen gesorgt hat, dann Deutschland. Wir waren es, die klargemacht haben, dass wir privaten Schiedsgerichten niemals zustimmen würden.

Ist es gut, wenn TTIP und Ceta kommen?

In den Verhandlungen mit Kanada ist ein sehr gutes Abkommen herausgekommen. Es schützt Verbraucher-, Umwelt- und Arbeitnehmerstandards. Es wahrt die Rechte der nationalen Parlamente. Bei Ceta ist vieles gelungen. Ganz anders sieht es bei TTIP aus. Nach unzähligen Verhandlungsrunden gibt es zu wichtigen Kapiteln nicht einmal Texte. Ich glaube nicht, dass der Wunsch von Angela Merkel, noch in diesem Jahr ein Abkommen mit den USA zu haben, irgendeine Chance hat.

Und nun?

Wunsch und Wirklichkeit sind hier noch sehr weit voneinander entfernt. Die Amerikaner sind gegen vieles, was wir mit den Kanadiern vereinbart haben, zum Beispiel gegen richtige Handelsgerichtshöfe anstelle privater Schiedsgerichte. In jedem Fall gilt aber: Besser kein Abkommen als ein schlechtes. Der Sichtweise, wir könnten auf Freihandelsabkommen verzichten, schließe ich mich allerdings nicht an. Wir haben die Wahl: Entweder wir bestimmen die Regeln im Welthandel mit, oder wir unterwerfen uns Regeln, die andere machen. Die amerikanisch-asiatischen Freihandelsabkommen sind miserabel.

Können Sie von dieser Haltung auch die SPD überzeugen? Der Widerstand, selbst gegen Ceta, ist erheblich.

Das wird gelingen.

Welche Chancen hat TTIP, wenn Donald Trump US-Präsident wird?

Keine.

Wie beurteilen Sie Trumps Weltsicht?

In Amerika passiert etwas, das wir hierzulande im Kleinen mit der AfD erleben. Da wird ein nationalistischer, spaltender, menschenverachtender Wahlkampf geführt. Ein irrationales Amerika wäre gefährlich für die ganze Welt. Ich sehe das mit großer Sorge.

An Ihrer eigenen Glaubwürdigkeit, Herr Gabriel, hat das Düsseldorfer Oberlandesgericht gerüttelt. Die Richter warfen Ihnen „Befangenheit“ und „fehlende Neutralität“ bei der geplanten Fusion der Supermarktkette Kaiser’s Tengelmann mit Edeka vor. Seither gelten Sie als politisch angeschlagen…

Ich lese in diesen Wochen eher das Gegenteil in den Zeitungen. Wir leben in einer sozialen Marktwirtschaft, nicht in einer freien. Ich bin in die Politik gegangen, um etwas für die Menschen zu tun. Ich bin nicht in der Politik, damit ich zusehe, wie Menschen etwas angetan wird. Es geht hier um 16.000 Arbeitsplätze, von denen 8000 akut gefährdet sind. Da geht es um Leute mit meist geringem Einkommen – Verkäuferinnen, Lagerarbeiter. Der Erhalt dieser Arbeitsplätze ist für mich ein Gemeinwohlgrund, der die Fusion von Edeka mit Kaiser’s/Tengelmann rechtfertigt.

Auch Sie müssen sich dabei an die Regeln halten.

Das haben wir auch. Und zwar genau an die Regeln, die das Oberlandesgericht Düsseldorf vor ein paar Jahren im Verfahren über die Fusion von Eon/Ruhrgas aufgestellt hat. Jetzt wird der Bundesgerichthof entscheiden müssen.

Stehen die Vorwürfe, die Ihnen gemacht werden, einer Kanzlerkandidatur entgegen?

Sich für 8000 Arbeitnehmer einzusetzen, gilt in der SPD nicht als Schande, sondern das erwarten Sozialdemokraten von ihrem Parteivorsitzenden.

Bernd Riexinger, Vorsitzender der Linkspartei, sagt: „Nur mit uns kann Gabriel Kanzler werden.“

Ich bin dafür, dass wir den Menschen in Deutschland erst mal sagen, wohin wir das Schiff Deutschland steuern wollen. Dieser ganze Koalitionshokuspokus lenkt doch von den wichtigen sachlichen Fragen nur ab. Welche Konstellation sich aus der nächsten Bundestagswahl ergibt, weiß kein Mensch. Bis zur Wahl ist es noch mehr als ein Jahr. Erst einmal entscheiden die Wählerinnen und Wähler.

Wie ist es um die Regierungsfähigkeit der Linken bestellt?

Das hängt von der Linken ab. Schauen Sie sich die Debatten der letzten Wochen über Flüchtlinge an. Da sind Teile der CDU liberaler als einige in der Linkspartei.