Berlin.

Nach der Rede des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan in Istanbul hat der Vorsitzende der Unions-Bundestagsfraktion, Volker Kauder, die Verhandlungen über einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union infrage gestellt. „Wenn die Türkei die Wiedereinführung der Todesstrafe beschließt, ist sicher eine rote Linie überschritten“, sagte der CDU-Politiker dieser Zeitung. „Man kann es nicht unwidersprochen lassen, wenn rechtsstaatliche Grundsätze nicht eingehalten werden.“

Erdogan hatte bei einer Großveranstaltung mit mehreren Millionen Teilnehmern erneut die Wiedereinführung der Todesstrafe in Aussicht gestellt. „Wenn das Volk so eine Entscheidung trifft, dann, glaube ich, werden die politischen Parteien sich dieser Entscheidung fügen“, sagte Erdogan am Sonntagabend in Istanbul bei der Kundgebung gegen den Putschversuch. Vor jubelnden Teilnehmern fügte er hinzu: „So eine Entscheidung vom Parlament würde ich ratifizieren.“

Vizekanzler Sigmar Gabriel äußerte sich ähnlich wie Kauder. Sollte die Türkei die Todesstrafe beschließen, würde sie gegen ein zentrales Element der Grundrechte-Charta der EU verstoßen, sagte der SPD-Chef in einem ARD-Interview. „Und dann macht es keinen Sinn, über Beitritt zu verhandeln“, sagte Gabriel.

Aber auch ohne die Einführung der Todesstrafe wird die Türkei nach Gabriels Einschätzung der EU frühestens in sehr ferner Zukunft beitreten. Er glaube nicht, sagte der SPD-Chef, „dass die Türkei in absehbarer Zeit – und jetzt rede ich von zehn, 20 Jahren – die Chance hat, der EU beizutreten“. Dies gelte selbst dann, wenn das Land alle Voraussetzungen erfüllen würde. Grund sei, dass die EU überhaupt nicht in der Verfassung sei, auch nur einen Kleinststaat zusätzlich aufzunehmen. „Die Illusion, da kommt jetzt einer, der ist demnächst Vollmitglied in der EU, das ist völliger Unsinn, das wird es nicht geben.“ Einen Abbruch der Beitrittsverhandlungen, wie er derzeit von etlichen Politikern gefordert wird, lehnte der SPD-Chef allerdings ab. Ausgerechnet jetzt eine Debatte über ein Ende von Verhandlungen zu führen, in denen sowieso nicht wirklich mit Fortschritten verhandelt werde, halte er nicht für vernünftig.

Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) schickt derweil einen Staatssekretär zu Gesprächen in die Türkei. „Wir sind der Meinung, dass es wichtig ist, mit der Türkei ins direkte Gespräch zu kommen“, begründete eine Sprecherin des Auswärtigen Amts diesen Schritt. Man wolle nicht nur „über Megafone und Mikrofone“ miteinander sprechen. Staatssekretär Markus Ederer werde bei seinem Besuch die Solidarität Deutschlands mit der Türkei bekräftigen, aber auch auf die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien bei der
Aufarbeitung des Putschversuchs pochen. Er habe Termine im türkischen Außenministerium und im Parlament.

Bei den Gesprächen wird wahrscheinlich auch das Besuchsverbot für deutsche Abgeordnete bei den deutschen Soldaten auf der Luftwaffenbasis Incirlik eine Rolle spielen. „Ich würde ganz stark davon ausgehen“, sagte die Sprecherin auf eine entsprechende
Frage. Nach der Verabschiedung einer Bundestagsresolution, in der das Vorgehen des Osmanischen Reichs gegen die Armenier vor mehr als 100 Jahren als Völkermord gewertet wird, war einem Staatssekretär und mehreren Abgeordneten der Besuch in Incirlik verwehrt worden.

Für Anfang Oktober ist nun wieder eine Reise von Abgeordneten
aller Fraktionen zu den mehr als 200 dort stationierten deutschen Soldaten geplant.