Berlin/Istanbul.

Zu sehen ist ein Meer aus türkischen Fahnen und Bannern mit Aufschriften wie „Du bist ein Geschenk Gottes, Erdogan“ oder „Befiehl uns zu sterben, und wir werden es tun“. So präsentiert sich die offizielle Türkei gut drei Wochen nach dem gescheiterten Putsch. Hunderttausende Türken versammeln sich am Sonntag auf dem Yenkapi-Platz in Istanbul zu einer Demonstration gegen den Umsturzversuch von Teilen des Militärs am 15. Juli. Die Kundgebung trägt das Motto „Demokratie und Märtyrer“ und es ist Präsident Recep Tayyip Erdogan, der dazu aufgerufen hatte.

Es ist eine Machtdemonstration. Sie soll auch gegen Kritik des Westens an den von der türkischen Führung ausgerufenen „Säuberungen“ in Militär, Justiz und Verwaltung schützen. „Ich bin kein Despot oder Diktator“, hatte Erdogan vor der Demonstration dem Sender al-Dschasira gesagt. Er würde kein Recht ausüben, das ihm vom türkischen Volk nicht zuvor verliehen wurde. Später auf der Kundgebung wiederholt er, dass er einer Wiedereinführung der Todesstrafe nicht im Weg stehen werde. „So eine Entscheidung vom Parlament würde ich ratifizieren“, sagt Erdogan.

„Wir sind hier, um zu zeigen, dass diese Flaggen nicht abgenommen werden, dass die Gebete nicht verstummen werden, und dass unser Land nicht geteilt wird“, sagt ein 46-jähriger Mann aus Ordu am Schwarzen Meer. „Hier geht es um mehr als um Politik. Hier geht es um Freiheit oder Tod.“

Doch auch das sind Bilder nach dem Putsch: Verdächtige, die mit Handschellen gefesselt und bis auf die Unterhose ausgezogen in überfüllten Zellen auf engen Pritschen hocken. Gefangene mit Verbänden und blauen Flecken. Nach Einschätzung von Menschenrechtlern ist die Situation in den türkischen Gefängnissen unhaltbar. „Sie stapeln sie übereinander, um ausreichend Raum zu schaffen“, kritisiert etwa der Menschenrechtler Mustafa Eren.

Tausende Richter und Staatsanwälte in Haft

Die Regierung erklärt, die Lage sei unter Kontrolle. Doch schon vor dem Putschversuch waren die türkischen Gefängnisse überfüllt und die Gerichte im Rückstand mit ihren Verfahren. Bereits im März saßen 188.000 Menschen in türkischen Gefängnissen eingesessen, 8000 mehr, als deren Kapazität zulässt. Seit dem Putschversuch Mitte Juli wurden zusätzlich 12.000 Menschen verhaftet. Tausende weitere werden zur Befragung festgehalten.

Unter den zusätzlichen Gefangenen sind auch rund 3000 Staatsanwälte und Richter, was die Situation weiter verschärft, da sie bei der Bearbeitung der Verfahren fehlen. „Die Kapazität der Gefängnisse war schon vor dem 15. Juli erschöpft. Häftlinge mussten schon damals auf dem Gang oder vor den Toiletten schlafen“, sagt Veli Agbaba, der stellvertretende Vorsitzende der größten säkularen Oppositionspartei, der Republikanischen Volkspartei CHP.

Agbaba ist Mitglied des CHP-Ausschusses zur Untersuchung der Zustände in den Gefängnissen. Diese seien derart überfüllt, dass Häftlinge in Schichten schliefen. Als Reaktion stellten die Behörden zusätzliche Betten in die Zellen, sodass man dort keinen Schritt mehr gehen könne. „Das Problem ist so groß, dass es sich nicht mit zusätzlichen Betten lösen lässt“, erklärt Agbaba.

Inzwischen hat die Türkei so viele mutmaßliche Putschisten in Haft genommen, dass die Regierung nach eigenen Angaben über kein Gerichtsgebäude verfügt, das groß genug ist, um ihnen allen den Prozess zu machen. Am Ende könnten sich 30.000 Menschen verantworten müssen. Knapp sind auch Anwälte für die Inhaftierten. In manchen Fällen erhielten die Festgenommenen zwar Rechtsbeistand, oft handle es sich dabei aber um unerfahrene Anwälte.

Während am Sonntag Hunderttausende in Istanbul ihrem Staatschef zujubeln, sitzen wenige Kilometer entfernt Türken in einem Wohnzimmer, denen nicht nach Feiern zumute ist. Ihre Namen wollen sie aus Angst vor Repression nicht in der Zeitung lesen. Die Akademiker überlegen, ob und wie sie ihrem Land den Rücken kehren sollen. Ihrer Auffassung nach hat nicht die Demokratie gesiegt, sondern der Stärkere.

Einer, der die Gesellschaft jetzt spaltet: in Menschen, für die der Islam im Alltag nur eine untergeordnete Rolle gespielt hat, und in jene, die ein Erstarken des Islam begrüßen. „Für uns, die wir stolz waren auf die moderne Türkei, auf eine Trennung von Staat und Religion, ist nun für Jahre eine Eiszeit angebrochen“, befürchtet ein Jurist. Das „normale“ Leben auf den Straßen Istanbuls fände zwar wieder statt. „Aber mit dem Herzen sind alle bei der Frage, was nun werden soll.“ „Ich bin mit Freundinnen in den Neunzigerjahren alleine in den Sommerurlaub verreist und abends essen und feiern gegangen. Meine Tochter könnte das zur Zeit so nicht machen“, sagt eine Ärztin. Eine gesellschaftliche Aussöhnung scheint ferner denn je. Die Souvenirverkäufer Istanbuls haben sich den neuen Verhältnissen bereits angepasst. Fahnen mit dem Profil des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk sind erst einmal verschwunden.