Hamburg. 95 Prozent der Antibiotika werden ohne Wirksamkeitstest verschrieben. Angesichts der Risiken gibt es Rufe nach einem neuen Gesetz.

Das Gros der niedergelassenen Ärzte in Deutschland verschreibt leichtfertig Antibiotika. Mehr als 95 Prozent der in ambulanten Praxen anfallenden Antibiotika-Rezepte werden offenbar auf Verdacht ausgestellt. Ob die verordneten Medikamente den Erkrankten helfen oder ihnen eher schaden, wird von den wenigsten Medizinern vorab überprüft.

Dabei gibt es einen wissenschaftlichen Wirksamkeitstest, das sogenannte Antibiogramm. Der Test sichert eine gezielte Therapie, wird aber zumeist ignoriert.

„Es wird falsch verordnet“

Dies belegt eine repräsentative Erhebung der Betriebskrankenkassen Nordwest und Mitte unter rund sieben Millionen Versicherten in 13 Bundesländern, die unserer Redaktion vorliegt. „Es wird falsch verordnet – so falsch, dass die Gesundheit von Patienten gefährdet wird“, sagt Dirk Janssen, stellvertretender Vorstandschef der BKK Nordwest.

Von rund 268.000 Menschen, die bei der BKK in Hamburg gesetzlich krankenversichert sind, bekamen von Anfang 2014 bis Mitte 2015 rund 108.000 (40 Prozent) Antibiotika verordnet. Allein rund 25.000 Patienten, die an Harnwegs- oder Wundinfektionen litten, wurden 42.000 Mittel verschrieben.

Hamburg ist Hochburg der Mehrfachverordnungen

Damit zählen die Ärzte in der Hansestadt zu den verschreibungsfreudigsten im Bund. Auf jeden Patienten mit Infekt kommen im Schnitt 1,7 Antibiotika, fast jeder dritte bekommt zwei oder mehr Mittel verschrieben, für acht Prozent der Patienten gibt es drei oder mehr Antibiotikaverordnungen – der Spitzenwert im Ländervergleich. Nur bei 4,6 Prozent der Hamburger war die Wirksamkeit per Antibiogramm abgesichert.

„Es ist paradox“, sagt BKK-Vize Janssen. Denn andererseits kennen in Hamburg mehr Ärzte als anderswo die Grenzen von Antibiotika – etwa bei Schnupfen. Nur jedem 15. Hamburger mit Erkältung wurde ein Antibiotikum verschrieben. Im Saarland bekommt fast jeder vierte Verschnupfte ein Antibiotikum.

„Eine Form von Missbrauch“

„Das ist eine Form von Missbrauch“, sagt Gerd Glaeske, Arzneimittelforscher an der Uni Bremen. Der Berliner Chefarzt Klaus-Dieter Zastrow fordert eine gesetzliche Neuregelung. Niedergelassene Ärzte sollten Antibiotika nur noch in Verbindung mit einem Antibiogramm verordnen dürfen.