Deutschland, wohin? In der Abendblatt-Interviewreihe spricht Grünen-Chef Cem Özdemir über Antworten auf die Terrorbedrohung und über die Lage der Türken hierzulande

Das Wirtshaus „Laurentia“ am Marktplatz von Bad Urach auf der Schwäbischen Alb ist für Cem Özdemir ein besonderer Ort. Schon als Elfjähriger kam er hierher, nach der Schule, und aß am Kiosk eine Wurst. Seine türkischen Eltern, die beide berufstätig waren, gaben ihm dafür 1,50 Mark. Als sich der Grünen-Chef zum Interview an einen Tisch vor der Kneipe setzt, ruft ihm eine ältere Frau zu: „Ich bete für Sie.“ Die Frau hat gelesen, dass er Morddrohungen bekommt, seit er eine Bundestagsresolution zum Völkermord des Osmanischen Reichs an den Armeniern initiiert hat. Özdemir, der sich selbst als säkularer Muslim bezeichnet, freut sich über die Unterstützung in schwieriger Zeit.

Terror und Amok – die Deutschen erleben verstörende Sommertage. Kann der Staat die Bürger nicht mehr schützen?

Cem Öztemir: Wir sollten nicht vergessen, dass unsere Sicherheitsbehörden schon viele geplante Terroranschläge abgewendet haben. Die Polizei und andere Behörden leisten hier großartige Arbeit. In einer offenen Gesellschaft gibt es aber keine absolute Sicherheit. Wir haben es mit islamistischen Terroristen und rechtsradikalen Amokläufern zu tun. Die offene Gesellschaft hat viele Feinde. Aber sie kann im Gegensatz zu ihren Feinden rational entscheiden. Dazu rate ich in dieser Lage auch.

Heißt?

Wir müssen mögliche Sicherheitslücken zügig, aber auch gründlich aufarbeiten. Wenn wir mehr Polizei brauchen, dann gibt es mehr Polizei. Aber niemand sollte die jüngsten Anschläge dazu nutzen, um seine alten Textbausteine hervorzuholen. Wer jetzt den Einsatz der Bundeswehr im Innern zur Regel machen möchte, gibt auch ein Misstrauensvotum ab gegen unsere Polizei. Grundsätzlich gilt: Wenn wir etwas verändern, sollten wir es losgelöst von den aktuellen Ereignissen tun. Sonst machen wir uns zu Getriebenen einer Agenda, die von Verbrechern bestimmt wird. Ganz gleich, ob uns Islamisten oder Rechtsradikale angreifen: Deren Ziel ist, unsere Gesellschaft zu radikalisieren. Was uns stark macht, ist die Einheit von Demokraten. Darum geht es jetzt.

In Würzburg und Ansbach hat es die ersten Anschläge auf deutschem Boden gegeben, zu denen sich der IS bekennt. In beiden Fällen waren Asylbewerber die Täter. Hat Sie das überrascht?

Dass der IS so perfide ist, Flüchtlinge für seine Zwecke zu missbrauchen, sollte uns nicht wirklich verwundern. Die Terroristen sprechen gezielt Leute an, die Schlimmes erlebt haben oder labil sind. Deswegen darf man die Prävention nicht gering schätzen. Wir müssen uns noch besser um unbegleitete minderjährige Flüchtlinge kümmern. Jeder einzelne braucht eine intensive Betreuung. Aber es bleibt auch die Herausforderung, den IS militärisch zu besiegen – in Syrien, dem Irak und auch in Libyen.

Eine militärische Lösung – trägt die grüne Partei das mit?

Wir Grünen wissen, dass es beides braucht: das Militärische, wo und wenn es nicht anders geht, und die Prävention. Außerdem müssen wir uns um die ideologischen Wurzeln kümmern, da höre ich von den anderen Parteien sehr wenig. Die Frage ist: Wer setzt sich durch im Islam? Gewinnen die Salafisten oder die Kräfte der Aufklärung? Wir müssen in Deutschland die Chance ergreifen und Muslime unterstützen, die wollen, dass der Islam durch das Feuer der Aufklärung geht. Dieser andere Islam muss verstärkt an unseren Universitäten gelehrt werden. Er muss in Deutschland eine Heimat bekommen.

Welche Rolle spielen dabei die Islamverbände?

Eigentlich eine wichtige. Aber so, wie gerade Ditib gegenwärtig organisiert ist, erfüllt der Verband nicht die Voraussetzungen, um als Religionsgemeinschaft anerkannt zu werden. Denn er ist im Kern eine politische Organisation – noch dazu eine, die aus der Türkei von der dortigen Regierung gesteuert wird. Wer also verlangt, dass ein solcher Verband an deutschen Schulen islamischen Religionsunterricht anbietet, der sollte ehrlicherweise dazu sagen, dass er den türkischen Präsidenten an unsere Schulen holen will.

In der Union schwindet die Unterstützung für die Willkommenskultur, die Angela Merkel in der Flüchtlingskrise vertritt. Kann die Kanzlerin auf die Grünen zählen?

Der permanente öffentliche Streit in der Union nutzt nur der AfD. In der Union gibt es eine Verrohung der Umgangsformen, die ich als Vorsitzender einer bürgerlichen Partei mit Abscheu und Empörung zur Kenntnis nehme (lacht). Und was die Willkommenskultur angeht: Das heißt ja nicht, dass man Ringelpiez mit Anfassen macht. Flüchtlinge genießen Schutz. Aber wir haben auch Erwartungen an sie. Dazu gehört, dass sich die Flüchtlinge an unsere Gesetze halten. Dazu gehört für mich auch die Gleichberechtigung der Frau, gewaltfreie Erziehung, sexuelle Vielfalt. Nichts davon werden wir infrage stellen. Wer hier auf Dauer glücklich werden will, muss das akzeptieren. Auf dieser Grundlage, mit beiden Beinen auf dem Grundgesetz stehend, soll jeder seine Religion ausüben können.

Die Kanzlerin will die Flüchtlingskrise mithilfe der Türkei lösen. Wie klug ist das angesichts der jüngsten Entwicklungen?

Seit dem niedergeschlagenen Putsch müssen Zehntausende in der Türkei um ihre Sicherheit fürchten. Erdogan, der Partner der EU in der Flüchtlingskrise, könnte jetzt seinerseits eine Fluchtbewegung auslösen. Für Deutschland und die Europäische Union kann es in dieser Situation kein Weiter-so geben. Grundsätzlich haben wir ein großes Interesse an einer starken, demokratischen Türkei. Sie hat ihren Platz in Europa. Aber mit der gegenwärtigen Führung der Türkei machen Beitrittsgespräche keinen Sinn. Ich rate dazu, die Verhandlungen vorerst auf Eis zu legen. Wenn Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte weiterhin außer Kraft gesetzt werden, müssen wir auf EU-Ebene auch über Sanktionen für das direkte Umfeld der Machthaber nachdenken, beispielsweise indem man Konten und Vermögen einfriert. Es ist nicht nur so, dass wir die Türkei als Partner brauchen. Auch sie braucht Deutschland und Europa.

Tausende Erdogan-Anhänger wollen am Sonntag in Köln aufmarschieren. Was blüht uns da?

Man kann in Deutschland für und gegen Putin, für und gegen Erdogan demonstrieren. Aber man muss das machen auf dem Boden unserer Rechtsordnung. Es darf dabei kein Klima der Angst entstehen. Wir erleben, dass hierzulande Jagd gemacht wird auf türkische Oppositionelle. Ich weiß, wovon ich rede. Wir müssen hier ein ganz klares Stoppsignal setzen. Erdogan-Anhänger, die andere einschüchtern wollen, müssen mit der ganzen Härte des Gesetzes bestraft werden. Von Islamverbänden wie Ditib oder anderen Vereinen, die sich sonst zu Wort melden, um die Türkei zu verteidigen, erwarte ich, dass sie sich klar von diesen Versuchen distanzieren.

Holt die Kanzlerin in solchen Fragen bei Ihnen Rat?

Wir haben uns schon darüber unterhalten und wir führen das fort.

Öffnen Sie sich für eine Koalition mit der CDU auf Bundesebene, wie es Ihnen der grüne Ministerpräsident Kretschmann empfiehlt?

Niemand hat Winfried Kretschmann zu sagen, wie er sich in Baden-Württemberg verhalten soll. Umgekehrt gilt: Was in Berlin passiert, entscheiden wir gemeinsam im Bundesverband und nicht in einem einzelnen Bundesland. Wir wollen auf der Grundlage unseres eigenen Programms so stark wie möglich werden. Und dann schauen wir, mit wem wir möglichst viele unserer Inhalte umsetzen können. Und außer mit der AfD reden wir dabei mir allen. Alles andere würde spanische Verhältnisse bringen, wo am Ende nichts mehr geht und das Land unregierbar wird.

Wie ist es um die Regierungsfähigkeit der Linkspartei bestellt?

Es kommt darauf an, welche Linkspartei. Wir können ja schlecht gegen die AfD demonstrieren und gleichzeitig die AfD-Light-Positionen von Wagenknecht und Lafontaine in der Flüchtlingskrise unter den Teppich kehren. Ganz anders sieht es aus, wenn die Linkspartei sich an Bodo Ramelow orientiert. Wir werden sehen.

Im vergangenen Bundestagswahlkampf haben die Grünen massive Steuererhöhungen für ein Gewinnerthema gehalten. Worauf setzen Sie dieses Mal?

Die Grünen werden keinen Wahlkampf mehr führen, in dem Steuerfragen im Mittelpunkt stehen. Der Markenkern der Grünen, der uns von jeder anderen Partei unterscheidet, ist die ökologische Modernisierung. Wir geben im Zweifelsfall der Ökologie den Vorrang. Und aktuell geht es auch um die Weltoffenheit Deutschlands und Europas.

Steuererhöhungen sind für Sie vom Tisch?

Es geht um Steuergerechtigkeit. Wir müssen Steuerschlupflöcher schließen, auch die Betrugsmöglichkeiten bei der Umsatzsteuer reduzieren. Auch ich will Superreiche stärker an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligen. Allerdings bin ich skeptisch, ob die vorgeschlagene Vermögensteuer dafür der richtige Weg ist. Wer die Substanz von Unternehmen besteuert, verhindert damit möglicherweise Investitionen des Mittelstands in die ökologische Modernisierung – das kann nicht in unserem Interesse sein.

Die Grünen wollen wieder mit einer Doppelspitze in den Wahlkampf ziehen. Hat sich das Modell bewährt?

Wir hatten schon die unterschiedlichsten Modelle: Spitzenkandidaten, Doppelspitzen, ganze Spitzenteams. Ich kann sehr gut mit dem jetzigen Modell leben und nehme es im Übrigen, wie es kommt. Generell ziehe ich keinen Mehrgewinn aus Debatten über Formalien. Da waren mir die inhaltlichen Debatten schon immer wichtiger.

Ist es ausgemacht, dass Sie einer der Spitzenkandidaten werden?

Das ist immer noch ein absolut offenes Rennen. Ich gehe voller Demut in die Urwahl. Im Leben wird einem nichts geschenkt, das sind immer harte Kämpfe. Mir ist das nicht neu. Ich sollte in der ersten Klasse sitzen bleiben, in der vierten Klasse wurde mir die Hauptschule prognostiziert. Mein Weg zum Vorsitz war auch nicht einfach. Jetzt wurde ich mehrfach wiedergewählt und bin der am längsten amtierende Bundesvorsitzende der Grünen. Ein bisschen was mache ich offenbar richtig (lacht).

Nächsten Sonnabend im Interview: Bernd Riexinger, Vorsitzender der Linkspartei.