Berlin.

Ein 17-jähriger stürzt sich in einer Regionalbahn mit Axt und Messer auf Fahrgäste. Ein 18-Jähriger mit mehr als 300 Schuss Munition im Rucksack feuert vor einem Einkaufszentrum mit einer Pistole scheinbar wahllos auf alles, was sich bewegt. Ein 21-Jähriger tötet mit einem Messer seine 45-jährige Freundin und sticht auf Passanten ein. Ein 27-Jähriger sprengt sich am Eingang eines Konzertgeländes selbst in die Luft. Würzburg, München, Reutlingen, Ansbach – vier Anschläge binnen sechs Tagen in Deutschland. Die blutige Bilanz: 13 Tote, 60 Verletzte. Und jetzt noch das: Ludwigsburg.

Ein 15-Jähriger hortet Messer, Dolche, Munition, Chemikalien und Anleitungen zum Bombenbau, legt sich Maskierungen zu und studiert die Fluchtpläne der Schule, die er besucht. Möglicherweise verhindern nur ein aufmerksamer Hinweisgeber und die direkte Festnahme des Jugendlichen durch die Polizei ein neues, verheerendes Blutbad.

Möglicherweise. Alles scheint möglich im Juli 2016 in Deutschland. An allen Ecken kann – gefühlt – gebombt, geschossen oder zugestochen werden in diesem Sommer. Und der Terror kann aus vielen Ecken kommen: aus der islamistischen oder der rechtsradikalen, der ausländerfeindlichen oder der psychopathischen. Was die Attentäter treibt, was sie eint und unterscheidet, darüber rätseln Ermittler und Wissenschaftler. Dabei gibt es einige Querverbindungen und Schnittmengen zu Einzeltätern wie zu Terrororganisationen.

„Da lügen sich die Behörden ganz gern in die Tasche“

David S., der Amokläufer von München, war – wie Hitler – geboren am 20. April. Er schlug auf den Tag genau fünf Jahre nach dem Massenmord von Anders Breivik auf der norwegischen Insel Utøya zu. Auch bei S. fand die Polizei eine Art „Manifest“ auf seinem Computer – ein paar Notizen wohl nur im Vergleich zu dem 1500-seitigen Werk, mit dem Anders Breivik seine wahnsinnige Sicht der Welt darlegte. In dem Pamphlet des Münchner Amokläufers geht es vorwiegend um seine gescheiterte Schulkarriere und das Mobbing, das mit ihm getrieben wurde. Machen die Parallelen David S. zu einem potenziellen Rechtsextremisten?

„Es gibt zumindest klare Indizien dafür“, sagt der Berliner Politikwissenschaftler Professor Hans-Gerd Jaschke. „Doch die Münchner Staatsanwaltschaft schiebt die Tat auf die Amokschiene, nach dem Motto: Täter krank, Fall erledigt.“ Die Ermittler hätten sich „etwas ungeschickt verhalten“, meint der Sicherheitsexperte. Eine Seelenverwandtschaft zum Amokläufer von Winnenden herzuleiten aus der Tatsache, „dass er ein Buch über Amok besaß“, sei gewagt. „Wer ein Weinbuch hat, muss nicht auch Weintrinker sein.“

Jaschke warnt davor, Augen und Akten vorschnell zu schließen. Es gebe bedenkenswerte Parallelen zu einer anderen prominenten Mordserie. „Auch im NSU-Fall wurde der rechtsextreme Hintergrund lange verleugnet. Bayern hat da eine unselige Vorgeschichte.“ Die Ermittler wären „gut beraten, dem nachzugehen, sonst kann denen das auf die Füße fallen“. Auch Breivik sei „kein Amokläufer, sondern ein Terrorist“ gewesen. „Da lügen sich die Strafverfolgungsbehörden ganz gern in die Tasche“, kritisiert der Sicherheitsexperte.

Professor Hajo Funke sieht im Amoklauf von München ebenfalls „eine Breivik-ähnliche Eskalation“. Das Wortgefecht etwa, das sich der Todesschütze von einem Parkdeck mit einem Nachbarn lieferte, bezeuge seine „rassistische Tatbereitschaft: Er hat gerufen ‚Scheiß Türke‘, das war hörbar“.

Das Internet sei „eine mentale und operative Instanz – und die Quelle, aus der Waffen ungeheuer schnell beschafft werden können“. Chatrooms wie die, in denen der verdächtige 15-Jährige aus Ludwigsburg letztlich auffiel, stünden für „eine eigene Identität, in die man sich reinsteigert“. Was bisher über den Jugendlichen bekannt sei, „legt nahe, dass er sich an Taten wie in Columbine oder Winnenden orientieren wollte“, so der Politikwissenschaftler. An der Columbine High School im US-Bundesstaat Nevada hatten 1999 zwei Schüler erst 13 Menschen getötet, ehe sie sich selbst richteten. Zehn Jahre später tötete ein 17-Jähriger in Winnenden bei Stuttgart 15 andere Menschen und danach sich selbst.

Der in Ludwigsburg festgenommene 15-Jährige hatte laut Ermittlern konkrete Überlegungen für einen Amoklauf an seiner Schule im Kopf. Und er hatte Kontakt mit David S., dem Attentäter von München. Es gebe einen Chatverlauf des 18-jährigen Täters vom Olympia-Einkaufszentrum mit dem 15-Jährigen, sagte ein LKA-Sprecher. Nähere Angaben machte die Polizei nicht. Nach Informationen dieser Zeitung lief der Kontakt zumindest über das Portal „Steam“, in dem sie Zeit mit Ego-Shooter-Spielen verbrachten.

Nach dem Bekanntwerden der Münchner Tat glaubte ein Nutzer, das Profil von David S. im Fotonetzwerk Instagram gefunden zu haben. Doch „Diabolic Psychopath“ (teuflischer Psychopath) mit Waffenfotos war der Zugang des Ludwigsburgers. Leute, die dem 15-Jährigen folgten und denen er folgte, huldigten dem Amokläufer-Duo von Columbine. „Langsam bekomme ich Angst“, schrieb der Nutzer, der ihn entdeckte. „Diabolic Psychopath“ hat auch auf Youtube ein Profil mit vielsagendem Profilbanner: „Auftragsmörder-Verleih – Verlässliche Beseitigung von Studenten seit 1999“. Das ist das Jahr des Columbine-Attentats. Er kenne David S. nur, schrieb „Diabolic Psychopath“ dort. Er sei „keine echte Gefahr für die Öffentlichkeit“. Das sah die Polizei anders.