Berlin/Brüssel/Ankara.

Nur ihre Unterhosen dürfen sie anbehalten. In langen Reihen sitzen Gefangene in einer Halle auf dem Boden, nackt, die Hände am Rücken gefesselt. Die Bilder, die der amerikanische Nachrichtensender CNN veröffentlicht hat, stammen nicht vom berüchtigten Gefängniskomplex Abu Ghraib im Irak, sondern offenbar aus der Türkei. Zu Hunderten werden in diesen Tagen Soldaten verhaftet, tatsächliche und vielleicht auch nur mutmaßliche Putschisten. Wer weiß das schon so genau, wer überprüft es, wenn zugleich auch Tausende Beamte, Polizisten und Richter abgesetzt und zur Fahndung ausgeschrieben werden? „Rechnungen begleichen“, nennt es Regierungschef Binali Yildirim und beschwichtigt, man werde sich an die Gesetze halten.

Bei der Europäischen Union (EU) verfehlen Nachrichten und Bilder nicht ihre Wirkung. Die Absetzung und Festnahme von Richtern sei „genau das, was wir erwartet und gefürchtet haben“, schimpft Erweiterungskommissar Johannes Hahn, der das Türkei-Beitrittsdossier betreut. Sogar die Wiedereinführung der Todesstrafe soll plötzlich kein Tabu mehr sein. EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini droht, „kein Land kann EU-Mitglied werden, wenn es die Todesstrafe wieder einführt“.

Steinmeier beschwichtigt: Alles nur politische Rhetorik

Der Abbruch der Beitrittsverhandlungen wäre die Folge: die europäische Höchststrafe. Die Türken würden auch die Visafreiheit aufs Spiel setzen, für die sie seit Langem kämpfen. Die Todesstrafe hat große symbolische Kraft. Sie wäre für die EU der eine Schritt zu viel. „Wir lehnen die Todesstrafe kategorisch ab“, lässt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Montag erklären. Und markiert damit eine rote Linie.

Kai Ambos glaubt nicht, dass sie tatsächlich übertreten wird. Er ist überzeugt, „dass daraus nichts werden wird“. Der Göttinger Professor für Internationales Strafrecht hält die Debatte für „reine Rhetorik“, wie er im Deutschlandradio Kultur erklärte. Die gleiche Ansicht vertritt auch Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD).

Für diese Argumentation spricht zum einen, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan für eine Verfassungsänderung erst einmal eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament organisieren müsste. Zum anderen ist sein Land an Zusatzprotokolle der Europäischen Menschenrechtskonvention gebunden. „Da gibt es insbesondere ein Zusatzprotokoll aus 2006, das absolut verbietet, die Todesstrafe anzuwenden, und das hat die Türkei auch ratifiziert“, erläutert Ambos. Wenn sie das missachtet, würde sich die Türkei isolieren. Sie könnte nicht nur die EU-Beitrittsperspektive abschreiben. Unweigerlich wäre auch ein Ausschluss aus dem Europarat die Folge. 47 Mitgliedsstaaten haben die Zusatzprotokolle unterzeichnet. Russland weigerte sich. Daraufhin schloss man die russischen Mitglieder aus der Europäischen Versammlung – quasi das Parlament des Europarats – aus.

Bereits 2004 wurde die Todesstrafe in der Türkei abgeschafft. Schon damals war sie seit 20 Jahren nicht mehr vollstreckt worden. Sie könnte wieder eingeführt werden, aber nach rechtsstaatlichen Maßstäben würde sie nicht rückwirkend gelten. Nach dem geltenden Rückwirkungsverbot, erläutert Ambos unserer Zeitung, würde sie erst ab Einführung „für die auch dann erst begangenen Taten gelten“. Es käme auf den Zeitpunkt der Tatbegehung an. Für die Putschisten aktuell käme sie zu spät.

Unter der dreijährigen Herrschaft der Generäle zwischen 1980 und 1983 waren 517 Todesurteile verhängt und 50 davon vollstreckt worden. Seit 1985 billigte das Parlament, das über jede Hinrichtung einzeln entscheiden musste, keine Vollstreckungen mehr. Prominentester Todeskandidat war der 1999 wegen Hochverrats verurteilte PKK-Führer Abdullah Öcalan. Auf EU-Druck wurde das Urteil nicht vollstreckt.

Rein völkerrechtlich ist nicht ausgeschlossen, die Todesstrafe einzuführen. In den USA, aber auch in Ländern wie China und Indien, Philippinen wird sie angewendet. Sie ist nicht weltweit verboten, sondern eben nur in Europa.

Am Ende läuft es auf zwei Fragen hinaus. Erstens: Wie stark will Erdogan für die Todesstrafe kämpfen? Er will rasch Beratungen mit der Opposition aufnehmen. Klar positioniert hat sich bisher nur die pro-kurdische HDP: Sie werde keinerlei Vorschläge zur Wiedereinführung der Todesstrafe unterstützen. Erdogan beruft sich auf das Volk. Nach dem gescheiterten Umsturz hatten Demonstranten mit Sprechchören wie „Hängt sie auf“ die Hinrichtung der Putschisten gefordert. „Wir können diese Forderung unserer Bürger nicht ignorieren“, meint Premier Yildirim und bringt eine Volksabstimmung ins Spiel.

Zweitens: Wie viel bedeutet Erdogan die Wertegemeinschaft? Nimmt er sich Russland als Vorbild? Dessen Präsident Wladimir Putin hat seinem türkischen Kollegen sofort seine Solidarität zugesagt, anders als Merkel unkonditioniert: Rechtsstaatliche Prinzipien hat Putin nicht angemahnt. Laut dem türkischen Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu wollen sich Putin und Erdogan noch im Juli oder Anfang August treffen.

Spätestens hier wird aus einem innertürkischen Politikum eine außenpolitische Frage. Schreitet die Entfremdung zwischen EU und Türkei voran, würde Russland die Chance nutzen und seinen Einfluss auf die Türkei ausbauen. Wie weit könnte sich die EU noch auf die Türkei verlassen, in der Flüchtlingspolitik oder in Syrien im Kampf gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“?

Die EU ist schon jetzt befremdet. EU-Erweiterungskommissar Hahn bekräftigte die Vermutung, dass die Verhaftungswelle seit Längerem geplant war: „Dass die Listen vorhanden waren, zeigt, dass es vorbereitet war.“ Der deutsche Außenminister Steinmeier bevorzugt eine hoffnungsvollere Analyse der Lage. Die einhellige Verurteilung des Putschversuches durch alle Parteien im türkischen Parlament sei auch „eine Chance“ für die Demokratie, sagte Steinmeier.

Am Abend bekräftigte der türkische Präsident seinen Plan, die Todesstrafe wieder einzuführen. Voraussetzung sei ein verfassungsändernder Beschluss des Parlamentes, sagte Erdogan in seinem ersten Interview nach dem gescheiterten Militärputsch dem amerikanischen Sender CNN. „Wenn sie bereit sind, das zu diskutieren, dann werde ich als Präsident jede Entscheidung des Parlamentes billigen.“