Ulan Bator/Berlin. Die Kanzlerin war am anderen Ende der Welt, als in der Türkei das Militär revoltierte. Das gab ihr Zeit, die nächsten Schritte zu planen

Als der Putsch abgewendet ist, findet Angela Merkel (CDU) klare Worte. „Panzer auf den Straßen und Luftangriffe gegen die eigene Bevölkerung sind Unrecht“, sagt sie am Sonnabend. Das markige Statement ist kein politisches Wagnis, keine Mutprobe mehr. Denn der Machtkampf in der Türkei ist da längst zugunsten von Präsident Recep Tayyip Erdogan entschieden, alle Messen sind gelesen.

Merkel ist auf der Siegerseite. Allein, ist eigentlich Erdogan noch auf der richtigen Seite? Ist er nach der Grenzerfahrung noch derselbe Mann? Und wird man sein Land wiedererkennen? Das sind nur einige der Fragen, die in den nächsten Wochen und Monaten die Kanzlerin umtreiben werden. Hinter Merkel liegen sonderbare Tage – und eine abseitige Reise.

Am Sonntag wurde Merkel 62 Jahre alt, ein Geburtstag, der sich immerhin ohne böse politische Überraschungen anließ. Die drei Tage zuvor war die Kanzlerin durch die Welt gedämmert, auf dem Weg zum europäisch-asiatischen Gipfel (Asem) in der Mongolei. Es ist nach Mitternacht in Kirgistan, als sie am Donnerstag erfährt, dass der Brexit-Vorkämpfer Boris Johnson britischer Außenminister wird. Am Freitag wacht sie in der Mongolei mit der Nachricht vom Anschlag in Nizza und anderntags – immer noch in Ulan Bator – mit der Meldung vom Putschversuch auf.

In Krisenzeiten ist die Haltbarkeit von Herrschaftswissen kurz. Merkel ist weder vorgewarnt noch schnell im Bilde. Nicht Opportunität leitet die Kanzlerin, als sie die Linie der Regierung festlegt. Zu diesem Zeitpunkt ist schließlich noch offen, wie der Putsch enden wird und mit wem sich die Kanzlerin letztlich wird arrangieren müssen.

Wenn es unübersichtlich wird, zieht sich Merkel zurück, sie wird dann schweigsam und wirkt, als ruhe sie in sich. Es ist ihre Art, sich zu sammeln, die Fakten zu sortieren und zu analysieren. Aber ihr Sprecher Steffen Seibert twittert, „die demokratische Ordnung in der Türkei muss respektiert werden. Alles muss getan werden, um Menschenleben zu schützen.“ In Ulan Bator ist es gerade 6.23 Uhr früh, in Berlin geht es auf Mitternacht zu, und in der Türkei steht es Spitz auf Knopf.

Einige Minuten später fügt Seibert per Twitter hinzu, „Kanzlerin Merkel im laufenden Kontakt mit den Ministern Steinmeier, Gabriel und Altmaier. Unterstützung für gewählte Regierung.“ Dieser zweite Tweet gilt schon weniger der Türkei. Die Botschaft ist innenpolitisch motiviert. Sie lautet: Die Linie ist abgestimmt, die SPD im Boot, die Kanzlerin im Film und die Koalition selbstredend handlungsfähig.

In Ulan Bator stecken führende EU-Politiker die Köpfe zusammen, der Brüsseler Kommissionschef Jean-Claude Juncker, Ratspräsident Donald Tusk, Merkel und viele weitere Staats- und Regierungschefs. Sie alle sind zum Asem-Gipfel dort und wie sich bald zeigt: zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort. Es ist zwar viel passiert, aber nicht hier. Ulan Bator liegt an der Peripherie der Weltpolitik.

Merkel nimmt den Schweizer Bundespräsidenten mit

Die Kanzlerin steckt in einem Zwiespalt, eigentlich sogar doppelt, politisch wie persönlich. Auf die Erleichterung über den Sieg der Demokraten folgt alsbald die politische Sorge vor einer Überreaktion Erdogans. Um den Gastgeber in Ulan Bator nicht zu verprellen, verfolgt sie – wie alle anderen Gipfelteilnehmer – die Reiterspiele beim traditionellen „Nadaam-Festival“ am mongolischen Feiertag. Dabei ist Merkel beim Rahmenprogramm für die Politiker mit ihren Gedanken – nach Nizza – sicherlich woanders. Am liebsten würde sie ihren Heimflug vorziehen.

Am „Chinggis Khaan International Airport“ ist am Sonnabend denn auch unerwartet früh „Rushhour“: Rote Teppiche werden herbeigeholt und ausgerollt, eine Ehrengarde eilt im Laufschritt zum Airbus 340 der Luftwaffe auf dem Rollfeld. So viel Protokoll muss zum Abschied schon sein, wiewohl die Kanzlerin so schnell wie möglich abfliegen will. Den Schweizer Bundespräsidenten Johann Schneider-Amman, der via Istanbul mit einer Linienmaschine gekommen war, nun festsitzt und seinen regulären Rückflug nicht antreten kann, nimmt die Kanzlerin nach Berlin mit – per Anhalter durch das Weltgeschehen.

In Ulan Bator hätte Merkel wie eine Stimme aus dem Off geklungen. Also fliegt die Kanzlerin um die halbe Welt zurück. Es sind fast 18 Stunden vergangen seit den ersten Alarmmeldungen aus der Türkei, als sie am Sonnabend um 15.30 Uhr vor der blauen Wand im Kanzleramt am dunkelgrauen Pult steht und das Wort ergreift. Alles soll normal aussehen, ruhig und kontrolliert – ein Dementi der Realität, die doch das genaue Gegenteil ist, nämlich unruhig und chaotisch.

Die Kanzlerin bestimmt Ort, Zeitpunkt und die Bedingungen. Ihr Auftritt ist ein Lehrstück über kontrollierte Defensive. Fragen lässt sie nicht zu. Merkel hätte womöglich nicht auf alle auch Antworten parat. Aus ihrem Statement hört man unschwer ihre Sorgen heraus. Deutschland stehe an der Seite derjenigen, die Rechtsstaat und Demokratie verteidigten. Merkel sagt nicht – wohlgemerkt –, dass sie an der Seite Erdogans stehe, aber, dass sich im Umgang mit dem Putsch „der Rechtsstaat beweisen“ solle. Ihre Solidarität gilt. Aber sie gilt nur allen, die sich demokratischen Werten verpflichtet fühlen. Das ist ein Unterschied.

Die innenpolitischen Signale aus Istanbul oder Ankara sind derweil eindeutig. Auch in der Mongolei konnte man vor dem Fernseher verfolgen, wie Tausende von Bürgern in der Türkei auf die Straße gingen. Selbstverständlich wird Merkel auch zugetragen, dass in Berlin mitten in der Nacht 2000 Menschen vor der Botschaft der Türkei demonstriert hatten. Für ihren Präsidenten, pro Erdogan. In ihrer Erklärung in Berlin wird sie später die Deutschtürken ausdrücklich erwähnen.

Zweifel, ob die Türkei wirklich ein sicherer Drittstaat ist

Erdogan wird aus der Zustimmung der Massen den Schwung mitnehmen und für seine Pläne nutzen. Er will bekanntlich die Macht seines Amts vergrößern und überdies die Islamisierung der Türkei jetzt erst recht vorantreiben. Klar ist für Merkel, dass Erdogan aus dem Putsch Stärke ableitet, unklar hingegen, was er mit ihr anfangen wird. Wird sich der Präsident noch auftrumpfender, noch unduldsamer, noch rachsüchtiger zurück auf die Bühne melden? Unwillkürlich denkt man an Erdogans Rechtsstreit mit dem deutschen Satiriker Jan Böhmermann.

Merkel muss sich allerdings ganz andere Fragen stellen: ob Erdogan in dieser unruhigen Zeit seine Zusagen im Flüchtlingsvertrag mit der EU halten kann. Ob sie die Gespräche über eine Visa-Freiheit für die Türken erfolgreich beenden kann. Ob Erdogans Rachefeldzug gegen den Bundestag – wegen der Armenien-Resolution – in die nächste Runde geht. Andere können Unbehagen artikulieren, für eine Regierungschefin hört die Verantwortung damit nicht auf, da beginnt sie vielmehr erst. Merkel spürt zum Beispiel, dass von ihr erwartet wird, dass sie das Hin und Her über eine Einreiseerlaubnis für Abgeordnete beendet, damit sie die Bundeswehr-Soldaten im Stützpunkt Incerlik besuchen können.

Bestätigt fühlen sich nicht zuletzt alle, die es bisher schon für unvertretbar hielten, den Nato-Partner im Asylrecht zum „sicheren Drittstaat“ zu erklären. Kann man Menschen in ein Land am Abgrund zurückschicken? Muss man der Türkei nicht – umgekehrt – sogar größere Kontingente von Flüchtlingen abnehmen? Die Kanzlerin ahnt solche Fragen. Die Antworten darauf wird sie schuldig bleiben. Merkel wird warten, bis der Pulverdampf verzogen ist.