Istanbul/BeRLIn. Der türkische Präsident beginnt nach dem versuchten Putsch mit beispiellosen „Säuberungen“ in Armee und Justiz

Recep Tayyip Erdogan war der Mann im Fadenkreuz: Ihn wollten sie ausschalten, politisch und offenbar auch physisch – jene Offiziere, die am Freitagabend in der Türkei einen Staatsstreich anzettelten. Kampfhubschrauber der Putschisten feuerten auf jenes Hotel im Urlaubsort Marmaris, wo Erdogan das Wochenende verbringen wollte. Aber als die Granaten einschlugen, war der Staatschef bereits auf dem Weg nach Istanbul. Statt ihn zu eliminieren, haben die Putschisten in spe Erdogan noch mächtiger gemacht. Abzulesen ist das an den Massenkundgebungen, zu denen sich Hunderttausende am Wochenende in türkischen Städten versammelten. Und als Erdogan am Sonnabendmorgen am Istanbuler Atatürk-Flughafen auftrat, skandierten fanatisierte Anhänger: „Sag es, und wir töten, sag es, und wir sterben.“ Vielerorts harrten die Menschen die ganze Nacht zum Sonntag bei „Wachen für die Demokratie“ aus oder veranstalteten „Siegesfeiern“. Selbst in den kurdischen Gebieten gingen die Menschen gegen die Putschisten und für Erdogan auf die Straße. Und auch die Oppositionsparteien und regierungskritischen Medien erklärten sich mit ihm solidarisch.

Die Sorge im Ausland ist groß

Was macht der Präsident? Er nutzt die Gunst der Stunde. Er brachte die Wiedereinführung der Todesstrafe ins Gespräch und nannte den Putschversuch „ein Geschenk Gottes“, weil sich nun ein Anlass biete, „unsere Streitkräfte, die vollkommen rein sein müssen, zu säubern.“ Mehrere Generäle wurden festgenommen, darunter Ex-Luftwaffenchef Akin Öztürk, der dem Obersten Militärrat angehörte und nun aus Regierungskreisen als einer der mutmaßlichen Drahtzieher des Umsturzversuchs bezeichnet wird. Insgesamt wurden fast 3000 mutmaßliche Verschwörer aus den Reihen der Armee festgenommen – und am Abend auch der Militärberater des Präsidenten, Ali Yazici.

Keine 24 Stunden nach dem Putschversuch ließ Erdogan zudem mehr als 2700 Richter ihrer Ämter entheben. Unter den Geschassten sind auch zwei Verfassungsrichter – das türkische Verfassungsgericht hatte in den vergangenen Jahren mit einer Reihe von Entscheidungen den Zorn Erdogans herausgefordert. Als die Verfassungsrichter im Februar die Freilassung zweier regierungskritischer Journalisten anordneten, verstieg sich Erdogan zu der Drohung, er werde das Verfassungsgericht abschaffen, wenn es weiter solche Urteile fälle.

Das harte Vorgehen der türkischen Staatsführung gegen tatsächliche und vermeintliche Putschisten weckt im Ausland große Sorgen um die Rechtsstaatlichkeit und Stabilität des Nato-Landes. US-Präsident Barack Obama rief zu „gesetzmäßigem Handeln“ auf. Österreichs Außenminister Sebastian Kurz plädierte für eine konsequente Haltung Europas gegenüber Erdogan zur Einhaltung der Grundrechte nach dem Putschversuch. Der gescheiterte Umsturz dürfe kein Freibrief für Willkür sein, sagte er.

Erdogan selbst kündigte am Sonntag in Istanbul ein gnadenloses Vorgehen gegen Anhänger seines Erzfeindes
Fethullah Gülen an, der in den USA im Exil lebt und den der Präsident für den Drahtzieher des Putschversuches hält. Seine Worte sind radikal, er meint es ernst: „Liebe Brüder, ist das genug?“, sagte er vor jubelnden Anhängern im Istanbuler Bezirk Fatih mit Blick auf die Verhaftungen. „In allen Behörden des Staates wird der Säuberungsprozess von diesen Viren fortgesetzt. Denn dieser Körper, meine Brüder, hat Metastasen produziert. Leider haben sie wie ein Krebsvirus den ganzen Staat befallen.“ Der Staatspräsident nahm in Istanbul an einer Beerdigung von einem der Todesopfer teil und rief das Volk erneut auf, auf die Straße zu gehen.

Besser hätte es für ihn kaum laufen können. Im 14. Jahr an der Spitze der Türkei ist der 62-Jährige mächtiger denn je. Dabei waren bis in die 2000er-Jahre hinein die Generäle die wahren Herren des Landes. Der von ihnen dominierte Nationale Sicherheitsrat stellte die eigentliche Regierung dar, das Kabinett war an seine Weisungen gebunden. Die Offiziere verstanden sich als Testamentsvollstrecker des Staatsgründers Atatürk, dessen politisches Erbe sie bewahren wollen, vor allem die weltliche Staatsordnung und die Westorientierung des Landes. Vier demokratisch gewählte Ministerpräsidenten haben die Militärs seit 1960 gestürzt, zuletzt 1997 den Islamisten Necmettin Erbakan, Erdogans Mentor. Auch Erdogan stand auf der Liste jener Politiker, deren Karriere die Generäle zu verhindern versuchten.

Schritt für Schritt schränkte Erdogan die Rolle der Militärs ein. Nun hat er auch die entscheidende Schlacht gegen die Armee gewonnen und schickt sich an – aufgeputscht von den Ereignissen des Wochenendes –, seine beispiellose Machtfülle mit der Einführung eines Präsidialsystems auszubauen. Der Präsident hat noch viel vor.