Es gibt kaum Schatten in Nizza, besonders wenig an der Promenade des Anglais. Dieser sieben Kilometer lange Fußweg direkt am Mittelmeer macht die Stadt einmalig, jetzt ist die Promenade eine Straße der Trauer. An diesem Sonnabendmittag, als die Sonne besonders stark scheint, der Himmel besonders blau leuchtet, läuft eine junge Frau mit hoch erhobenem Haupt und einem roten Kleid diesen Boulevard entlang. Sie trägt eine große Sonnenbrille und in der linken Hand einen Blumenstrauß. Plötzlich hebt sie im Gehen die Hand mit den weißen Lilien zu ihrem Gesicht. Erst jetzt fällt auf, dass sie hinter der Sonnenbrille bitterlich weint.

Sie heißt Caroline, sagt sie, und sie kommt aus Norwegen. Sie habe sich am Freitag nicht auf die Promenade getraut, es war noch zu nah. Jetzt steht sie am ersten großen Trauerplatz vor dem Hotel Le Meridien. „Ich hatte meine Jacke im Hardrock Cafe liegen gelassen“, sagt sie. „Dort war ich am Donnerstag, als plötzlich ganz viele Menschen hineinströmten und um Hilfe schrien.“ Das Restaurantpersonal öffnete den Hinterausgang, und sie und andere rannten. „Ich lief um mein Leben“, sagte sie. „Das habe ich noch immer nicht ganz verarbeitet.“ Erst jetzt, beim Anblick all der Blumen und der Briefe, werde ihr bewusst, dass sie Glück hatte. Sie sagt: „Ich gehöre seit heute zu den Überlebenden.“ Dann legt sie den Strauß ab, dreht sich weg und möchte nicht mehr weiter­reden.

An vielen Stellen der Promenade gibt es diese spontanen Blumenberge mit Zetteln mit Sätzen wie: „Wir denken an Euch!“ Am Donnerstagabend, während der Feierlichkeiten zum Französischen Nationalfeiertag, hatte ein Lkw gegen 22.45 Uhr die Absperrung durchbrochen und war mitten in die Menschenmenge gefahren. Der 19-Tonner tötete innerhalb kurzer Zeit mindestens 84 Menschen, darunter zehn Kinder und Jugendliche. Die verwaisten Kinderwagen am Boulevard sind das schockierende Bild auf den Titelseiten der Zeitungen in Frankreich. Mehr als 200 weitere Personen wurden verletzt, rund 20 Menschen schweben auch am Sonntag noch in Lebensgefahr.

Viktor Salquist-Stille hat alles genau gesehen. Er steht am zweiten großen Trauerpunkt, vor dem Café Balthazar. Es ist zwei Tage her, doch der 19 Jahre alte Kopenhagener ist ganz aufgeregt, als er davon erzählt. „Der Wagen war vielleicht zwei Meter neben mir“, sagt er. „Ich habe mich instinktiv auf meine Schwester geworfen, und sobald der Wagen weitergefahren war, hab ich uns aus der Absperrung gedrängt.“ Der Däne suchte dann seine beiden Eltern, und zusammen rannten sie, so schnell sie konnten. „Es war das Schlimmste, was ich je erlebt habe, noch nie war ich dem Tod so nahe in meinem Leben, sie lagen einfach überall um uns herum.“ Er hat den Tag im Hotel verbracht und alles über das Attentat gelesen, was man bis dahin herausfinden konnte.

Am Steuer des Lkw saß Mohamed Lahouaiej-Bouhlel, ein 31 Jahre alter Tunesier, der seit sieben Jahren in Nizza wohnte. Nach wie vor ist nicht klar, warum er bewaffnet mit zwei Pistolen und zwei Sturmgewehren sowie einer Handgranate in den Lkw stieg und möglichst viele Menschen ermorden wollte.

Fassungslos stehen Maria Mam­ström und Sabrina Hochreitner an der Promenade. Sie umarmen einander. Auch sie sind mit dem Leben davongekommen. Für sie sollte es der Abschied nach drei Wochen Sprachtraining Französisch sein. Die 18 Jahre alten Schülerinnen aus Österreich und Schweden haben den ganzen Abend am Wasser verbracht. „Das Feuerwerk war wahnsinnig schön“, sagt Sabrina. „Aber es war ganz komisch, irgendwann waren es mir zu viele Menschen, und ich wollte da weg.“ Sie verließ das Gelände fünf Minuten vor dem Attentat. „Wir mussten trotzdem bis zwei Uhr morgens in einem Café sitzen“, sagt sie, „weil wir nicht auf die Straße durften.“

Waren es am Freitagabend nur wenige Blumen und Kerzen, die nieder­gelegt wurden, sind die beiden Orte zu regelrechten Schreinen angewachsen. Jemand hat das Foto einer Frau mit dem Namen „Aldija“ aufgehängt. Sie wurde „nicht älter als 42 Jahre“, steht darauf. Eine große französische Flagge hat jemand an das Café Balthazar gehängt mit dem Spruch: „Vive La France“. Das Personal des Cafés weiß noch nicht, wann es wieder öffnen wird.

Die Trauernden sprechen leise, laufen vorsichtig

Am Beginn des Boulevards, nicht weit von dem Ort, wo der Lkw seine grausame Fahrt aufnahm, steht das Kinderkrankenhaus Lenval. „Wir haben 30 Kinder aufgenommen“, sagt Lenval-Spre- che­rin Stéphanie Simpson, „zwei davon starben kurz darauf.“ Mindestens fünf Kinder seien noch in einem kritischen Zustand, sagt sie. Am wichtigsten aber sei die psychologische Betreuung, die sie sofort eingerichtet haben. „Zu uns kam ein Mann und sagte: Hallo, mir wurde gesagt, mein Kind ist gestorben, stimmt das?“ Er sei schwer geschockt gewesen. Auch für sie selbst sei es psychologisch schwierig, zerbrochene Familien zu sehen. „Ich hatte Glück, ich bin mit meiner Familie rund zehn Minuten vor dem Attentat nach Hause gegangen.“

Auf dem Weg zurück zum Hauptplatz vor dem Hotel Le Meridien fällt auf, wie international die Gruppe der Trauernden ist. Die Menschen laufen vorsichtig, und sie sprechen leise, wenn man sie etwas fragt. Eine Russin sagt, sie „erkenne ihr Nizza nicht wieder“. Sie komme jedes Jahr. Ein Deutscher sagt, er ist froh, dass er noch lebe. Auf einem Zettel vor dem berühmten Hotel Negres­co schreibt ein „Schwede mit gebrochenem Herzen“ einen Brief. Darin der Satz: „Seit gestern habe ich das Gefühl, ich sehe der Wahrheit zum ersten Mal ins Auge, und ich habe Angst.“

Es ist noch ein kleiner Blumenberg vor dem Hotel Negresco, der sicher noch anwachsen wird. Neben dem Brief des Schweden legt eine Französin eine weiße Rose ab und bekreuzigt sich. Auch sie trägt eine große Sonnenbrille, als ihr Freund sie in den Arm nimmt, zucken ihre Schultern, und sie wischt sich neben der Brille die Tränen weg.