Paris/Nizza.

„Es war wie in einem Horrorfilm“, sagt Leila R. Die 22-jährige Verkäuferin stand mit einer Freundin auf der Uferpromenade von Nizza, als der schwere Lkw auf die Menschen zuraste. Sie schauten gerade nach oben, auf das Feuerwerk, als sie auf einmal Schreie hörten – und dann Schüsse. „Ich dachte zuerst, das wären Böller. Aber dann begannen die Menschen in alle Richtungen auseinanderzulaufen, wie eine Welle kam die Menge auf uns zu.“ Ihre Freundin zog sie noch rechtzeitig vom Bürgersteig in ein Restaurant. „Sonst wären wir wohl niedergetrampelt worden.“

Das „absolute Grauen“, von dem die Augenzeugen berichten, platzt mitten in das fröhliche Fest auf der weltbekannten Promenade des Anglais. Dort wird gerade der französische Nationalfeiertag gefeiert. Tausende Einheimische und Touristen versammeln sich auf der in eine Fußgängerzone verwandelten Uferstraße. Die Menschen wollen sich das Feuerwerk anschauen, mit dem der 14. Juli in den meisten Städten des Landes endet.

Der deutsche Journalist Richard Gutjahr ist auf dem Balkon seines Hotelzimmers und schaut sich das Feuerwerk an, als er den ungewöhnlichen Lkw auf der Promenade bemerkt. Er filmt die Szene mit dem Handy. Später stellt er seinen Film dem WDR zur Verfügung. „Das Feuerwerk zum Nationalfeiertag war gerade vorüber. Plötzlich rollte ein weißer Lkw vorbei. Das passte nicht ins Bild, denn die Straßen waren für alle Fahrzeuge gesperrt. Der Lastwagen fuhr sehr langsam, einige Leute haben gebrüllt. Es wirkte eigenartig, deshalb habe ich angefangen, mit meinem Handy zu filmen“, sagte er „Spiegel Online“.

Weder die Absperrungen noch die Sicherheitskräfte können den weißen Kühltransporter daran hindern, auf die fünfspurige Straße einzubiegen, um erst langsam, dann beständig immer schneller werdend im Zick-Zack durch Menschenmassen zu pflügen. „An der Kreuzung haben Polizisten das Feuer eröffnet, dann hat der Fahrer Gas gegeben und die ersten Menschen überfahren. Ob wegen der Schüsse oder ob er es genauso geplant hat, kann ich nicht beurteilen. Das wäre Spekulation“, berichtet Gutjahr.

Ein spanischer Tourist erlebt das Unfassbare auf der Promenade. „Wie Puppen“, so erzählt er es später, werden die Männer, Frauen und Kinder, die nicht mehr rechtzeitig ausweichen können, von dem schweren Fahrzeug durch die Luft gewirbelt. Ähnliches erlebt auch Damien Allemand, Journalist der ortsansässigen Zeitung „Nice Matin“: „Ich habe Menschen wie Bowlingkegel durch die Luft fliegen sehen. Lärm und Schreie gehört, die ich niemals vergessen werde. Ich war wie gelähmt.“

In Panik versuchen die Menschen, davonzulaufen oder sich in die Bars, Restaurants und Hotels auf der Landseite der Promenade zu flüchten. Andere springen im letzten Augenblick über die Brüstung des Boulevards und stürzen zweieinhalb Meter tief auf den mit großen Steinen übersäten Stadtstrand.

Ein unbekannter Held half,den Wagen zu stoppen

Erst nach zwei Kilometern kommt der Lkw in der Nähe des Nobelhotels „Negresco“ zum Stillstand. Französische Medien berichten, dass ein normaler Passant den Polizisten dabei half, den Wagen zu stoppen: „Eine Person ist aus der Menschenmenge auf den Lastwagen gesprungen und wollte ihn anhalten“, bestätigte Eric Ciotti, Präsident der Region Alpes-Maritimes, „Le Parisien“. „Es war der Moment, in dem es den Polizisten gelang, den Terroristen auszuschalten.“ Und „Le Figaro“ schreibt, der Mann habe mit „bloßen Händen“ versucht, den Täter an der Weiterfahrt zu hindern. Erst als der Attentäter seine Waffe zieht, springt der couragierte Mann vom Wagen. Der Name dieses Mannes ist bislang nicht bekannt. Dann richtet der Attentäter seine Waffe auf zwei Polizisten, die den Lkw inzwischen erreicht haben. Es folgen Schüsse. Der Kugelhagel durchsiebt Front und Windschutzscheibe des Lasters und tötet seinen Fahrer, der laut Augenzeugen bis zum letzten Atemzug mit einem Revolver in die Menge und auf die Beamten feuert. Bewaffnete Soldaten kommen den Polizisten zu Hilfe und eröffnen das Feuer auf das Fahrerhaus. Am Ende der Schießerei ist die Fahrerkabine des weißen Lastwagens schließlich mit mindestens 50 Einschusslöchern übersät.

Leila R. glaubt, dass „es bestimmt zehn Minuten gedauert hat“, bevor die ersten Rettungswagen eintreffen. Zehn Minuten Panik und Verwirrung. In diesen zehn Minuten verlassen alle, die noch können, die Promenade. Zurückbleiben die Toten und Verletzten, die überall auf dem Fahrdamm und auf den breiten Bürgersteigen liegen.

Durch die Fensterfront des Restaurants beobachten Leila, ihre Freundin und rund 80 weitere Anwesenden geschockt die gespenstische Szene. Niemand kommt auf den Gedanken, nach draußen oder nach Hause zu gehen. Aus Angst einerseits. Aber auch, weil die Sicherheitskräfte vor Ort und wenig später die Behörden über die Medien die Bevölkerung auffordern, möglichst an ihren Zufluchtsorten oder in ihren Wohnungen zu bleiben. Es gilt, die Versorgung der zahlreichen Verletzten nicht zu behindern.

Noch vor Mitternacht ruft die Präfektur den Notstand in Nizza aus, in den Krankenhäusern und Kliniken der Stadt werden alle Kräfte mobilisiert, im Foyer des Nobelhotels „Negresco“ wird ein Notlazarett eingerichtet. In einer ersten Bilanz ist von 60 Todesopfern und mehr als 100 Verletzten die Rede. Doch die Schreckenszahlen erhöhen sich in den folgenden Stunden auf 84 Tote und deutlich mehr als 200 Verletzte, von denen bis gestern 50 in Lebensgefahr schweben.

Offizielle Stellen vermeiden es zunächst, von einem terroristischen Anschlag zu sprechen. Doch noch in der Nacht wendet sich Präsident François Hollande in einer kurzen Fernsehansprache an die Nation. An dem „terroristischen Charakter dieses Angriffs“ gibt es ihm zufolge keine Zweifel. Und bevor am Freitagmorgen das Sicherheitskabinett im Elysée-Palast zu einer Krisensitzung zusammentritt, zieht das Staatsoberhaupt Konsequenzen. Eine Intensivierung des Kampfs gegen den Islamischen Staat (IS) im Irak und in Syrien verspricht Hollande und kündigt an, dass der im November verhängte Ausnahmezustand erneut um drei Monate verlängert wird.

Aber Hollande muss der Tatsache Rechnung tragen, dass die sich seit November im Dauereinsatz befindenden Sicherheitskräfte schon längst an ihre Belastungsgrenzen stoßen. Deswegen ordnet er zudem die Mobilisierung der sogenannten operationellen Reserve an, sprich die umgehende Reaktivierung von Soldaten und Ordnungskräften, die in den vergangenen fünf Jahren aus dem Dienst ausgeschieden sind. Sie sollen in ihren ehemaligen Dienststellen oder Einsatzgruppen für Entlastung sorgen.

Ebenfalls noch in der Nacht auf Freitag werden die Ermittlungen an die