Auf dem Zebrastreifen vor dem Haus in der Rigaer Straße 94 steht: „Wir haben die Macht!“ Es liest sich wie ein Manifest der linken und linksmilitanten Szene. Deren Anhänger verteidigen ihre „Freiräume“ bekanntermaßen mit fast allen Mitteln. Zuletzt hatten sie damit auf einem für sie eher ungewöhnlichen Weg Erfolg: dem des Rechtsstaates. Denn eine Richterin am Landgericht hatte am Mittwoch festgestellt, dass der Eigentümer des Hauses die Räume des Szenetreffs „Kadterschmiede“ im Hinterhof zu Unrecht hatte räumen lassen. Die Anhänger des Vereins, so das Urteil, dürfen die Flächen also wieder in ihren Besitz nehmen.

Schon am Vormittag warteten sie vor „ihrem“ Haus, voller Freude, aber auch voller Anspannung. Dann endlich, gegen 13.30 Uhr kam sie, die Gerichtsvollzieherin, eine Vertreterin des Staates also, der von vielen Bewohnern und Sympathisanten des Wohnprojektes so skeptisch beäugt, von manchen sogar gehasst wird. Sie sollte ihnen ihr Recht zurückgeben: den Zutritt zu den Räumen der „Kadterschmiede“. Freudenrufe, Klatschen, großer Jubel. Doch so einfach war es nicht, denn der Schlüssel wollte nicht passen. Ein Schlüsseldienst half – und dann nahmen sich die Aktivisten das, was laut Recht und Gesetz nun wieder in ihrem Besitz ist.

Zuvor gab es aber noch Verwirrung. Denn auf den Räumlichkeiten der
„Kadterschmiede“ prangte plötzlich ein neues Namensschild. Es war das der Baufirma, so sagte der Rechtsbeistand des Vereins, Lukas Theune. „Das war der letzte Trick, den die Eigentümer versucht haben“, sagte Theune. Sie hätten behauptet, den Besitz an den Räumlichkeiten der Baufirma übertragen zu haben. Diesen Versuch habe die Gerichtsvollzieherin aber nicht akzeptiert.

Die Polizei begann unterdessen mit dem Rückzug. Die Absperrgitter, an denen sich in den vergangenen Wochen nicht nur linke Aktivisten, sondern auch Nachbarn gestört hatten, verschwanden auf einem Lkw. „Gezielte Einsatzmaßnahmen werden am Objekt derzeit nicht durchgeführt“, sagte Polizeisprecher Winfrid Wenzel.

Während die Polizisten zusammenpackten, waren Polizeiführung und Innensenator Frank Henkel (CDU) damit beschäftigt sind, zu erklären, warum die Beamten eine Beräumung und Bauarbeiten absicherten, die laut Gericht rechtswidrig waren. Im Roten Rathaus trafen sich Innenstaatssekretär Bernd Krömer (CDU) und der Chef der Senatskanzlei, Björn Böhning (SPD). Ein Krisentreffen der Stellvertreter – denn eigentlich hätten der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) und sein Intimfeind, Innensenator Henkel, hier sitzen müssen. In der Auseinandersetzung um die „R94“ haben sich beide gründlich verrannt. So sieht es die Opposition, die in einer Sondersitzung des Innenausschusses klären will: Wer wusste was zu welchem Zeitpunkt und was war die Rechtsgrundlage für den Einsatz?

Henkel wird dabei womöglich auch einige seiner früheren Äußerungen erklären müssen. So sagte er am 6. Juni im Interview mit der Berliner Morgenpost: „Die Polizei ist nicht dort in der Rigaer Straße, weil es ihr Spaß macht oder es dem Innensenator gefällt, sondern weil sie den Rechtsstaat durchsetzt.“ Er begründete den Einsatz also mit einer Unterstützung für den Eigentümer, der angeblich nur sein Recht durchgesetzt sehen wollte. Doch nachdem das Landgericht festgestellt hatte, dass die Beräumung der „Kadterschmiede“ rechtswidrig war, schien diese rechtliche Grundlage zweifelhaft. Nach dem Urteil schwenkte Henkel daher um – und sagte nun: „Der Einsatz war gefahrenabwehrrechtlich begründet und diente dem Schutz der Bauarbeiter.“

Viele offene Fragen – aber einiges ist nun bekannt. So bestätigte die Innenverwaltung der Berliner Morgenpost, dass der Anwalt des Hauseigentümers die Polizei bereits am 31. Mai schriftlich um Schutz des Personals und der Hausverwaltung bei der Begehung und Beräumung von „allgemein zugänglichen und nicht vermieteten Bereichen“ der „Rigaer 94“ gebeten habe. Die Entscheidung für den Einsatz traf Polizeipräsident Klaus Kandt laut Polizei nach Beratung mit dem Leiter der zuständigen Polizeidirektion am 7. Juni höchstpersönlich. Auch einen Mitarbeiter des Justiziariats habe man konsultiert. „Im Ergebnis der Prüfung hat er keine rechtlichen Bedenken gegen die beantragten Schutzmaßnahmen erhoben“, sagt Polizeisprecher Wenzel.

Senator Henkel wurde laut Innenverwaltung erst am Abend vor dem Einsatz, also am 21. Juni, „telefonisch in Kenntnis gesetzt“. Der oberste Polizeichef soll seine Entscheidung also zwei Wochen für sich behalten haben. Angesichts der politischen Brisanz des Falls wäre das bemerkenswert.

Der politische Streit dürfte spannend werden. Aus Sicht der Linksautonomen hat sich der Aufwand für den Rechtsstreit aber in jedem Fall gelohnt. Sie können sich als Opfer einer scheinbar willkürlichen „Polizeigewalt“ inszenieren, was ihnen neuen Auftrieb geben dürfte. Das Geld zur Finanzierung des Prozesses und ihrer übrigen Aktivitäten dürfte aus Spenden stammen. Laut Verfassungsschutz sammelt die Szene regelmäßig bei „Soli-Veranstaltungen“, etwa Konzerten oder Partys. Großspender gebe es wohl keine. Die linke Szene sei aber gut vernetzt und die Aktivisten aus dem Umfeld der „R94“ könnten sich auf die Unterstützung verschiedener Gruppen verlassen. Einige 10.000 Euro pro Jahr, so schätzen Beobachter, könnten damit zusammenkommen.

Das Rätselraten um den Eigentümer des Hauses geht unterdessen weiter. Formal ist es die „Lafone Investments Limited“ mit Sitz in London. Unternehmensgründer John Dewhurst erklärte jedoch, nur als Bevollmächtigter zu handeln. Auf die Frage, für wen er handele, erklärte Dewhurst: „Darüber Auskunft zu geben, bin ich nicht autorisiert.“ Die Bürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg, Monika Herrmann (Grüne), sagte, auch das Bezirksamt
habe den wahren Eigentümer des Hauses nicht ausfindig machen können.

Die politische Diskussion über die Rigaer Straße hat unterdessen längst die Bundesebene erreicht. Nach Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) äußerte sich nun Innenminister Thomas de
Maizière (CDU). Die Gewaltanwendung und die Aufstachelung zu Hass und
Gewalt seien nicht zu akzeptieren. „Es ist richtig, dagegen mit Härte vorzugehen. Mit Gewalttätern gibt es nichts zu verhandeln“, sagte de Maizière der „Berliner Zeitung“.

Der Rechtsanwalt der Hauseigentümer hat unterdessen sein Mandat
niedergelegt. Unbekannte hatten zuvor vor seinem Haus zweimal Autos in Brand gesetzt – zuletzt in der Nacht vor dem Prozess vor dem Landgericht. Der Anwalt geht von einem Einschüchterungsversuch aus – der nun Erfolg hatte. Ein neuer Anwalt ist aber bereits
gefunden. Gegen die Entscheidung des Landgerichts will er Einspruch einlegen.

Doch auch wenn der Entscheid Bestand hätte: Der Eigentümer könnte in einem neuen Verfahren einen Räumungstitel erwirken. Der Gerichtsvollzieher könnte dann, diesmal rechtskonform, die Polizei um Amtshilfe bitten. Die Polizei müsste dann erneut an­rücken – und einige Bewohner der „R94“ kündigten bereits Widerstand an. Die nächste Gewaltorgie scheint programmiert.