London.

Endlich angelangt. Theresa May steht vor der Tür der Downing Street Nummer 10 und bemüht sich um Fassung. Es ist kurz nach 19 Uhr. Nur eine Viertelstunde zuvor ernannte sie im Buckingham Palace Queen Elizabeth II. zur Premierministerin. Nun hält sie ihre erste Ansprache im neuen Amt an das britische Volk. „Meine Regierung“, sagt sie, „wird nicht das Interesse der Reichen oder Mächtigen oder Privilegierten im Auge haben. Sondern eures.“ Mit dem Brexit stehe das Land vor großen Herausforderungen, aber sie werde „eine kühne, positive Rolle für Großbritannien in der Welt schmieden“. Und sie endet mit dem Versprechen: „Zusammen werden wir ein besseres Großbritannien bauen.“

Die Botschaft an die Briten ist klar: May will eine Regierung führen, für die soziale Gerechtigkeit im Mittelpunkt steht. Und der restlichen Welt signalisiert sie: Die britische Regierung ist nach dem Brexit-Chaos wieder handlungsfähig. Dann dreht sich Theresa May um und verschwindet hinter der schwarz lackierten Tür mit der silbernen Nummer 10. Sie hat zu tun. Die Arbeit beginnt.

Und die beginnt mit einem Paukenschlag: Noch am Abend bildet May das Kabinett um. Brexit-Wortführer Boris Johnson wird neuer Außenminister. Dass Johnson nun eine wichtige Rolle bei den Verhandlungen über das künftige Verhältnis Großbritanniens mit der Europäischen Union spielen darf, ist allerdings nicht zu erwarten. Für diese Aufgabe wird der konservative Brexit-Befürworter David Davis zuständig sein – als Brexit-Minister.

Den bisherigen Außenminister Philip Hammond ernannte May zum neuen Schatzkanzler. Finanzminister George Osborne trat zurück, teilte Downing Street weiter mit. Hammond dürfte bei den anstehenden Austrittsverhandlungen mit der EU nun eine wichtige Rolle spielen. Zudem rückt die Abgeordnete Amber Rudd an Spitze des Innenministeriums.

Stunden zuvor hatte sich David Cameron als Noch-Premier zum letzten Mal in der wöchentlichen Fragestunde den Abgeordneten gestellt – traditionell ein Kampf der Alphatiere. Doch bei dieser letzten Fragestunde war die Stimmung entspannt, die Auseinandersetzungen zivil, oft unterbrochen von Scherzen und Gelächter. David Cameron setzte gleich am Anfang den launigen Ton, als er bemerkte, dass sein Terminkalender für diesen Tag außer einer Audienz im Buckingham Palace „bemerkenswert leer“ sei. Viele Abgeordnete wiesen auf das Vermächtnis des Premiers hin, auf seine Erfolge bei der Sanierung der Staatsfinanzen, auf den Aufbau einer starken Wirtschaft, die Schaffung von 2,5 Millionen Arbeitsplätzen oder auf seine sozialreformatorische Agenda.

Er bliebe, verabschiedete sich Cameron zum Abschluss der Fragestunde, als Hinterbänkler dem Haus erhalten. Dann hatte er noch einen Rat für die Kollegen: „Nichts ist unmöglich, wenn man es wirklich will. Wie ich früher einmal bemerkt habe: Ich war einmal die Zukunft.“ Nach Camerons letzten Worten passierte etwas, was selten vorkommt im Unterhaus. Die Abgeordneten gaben ihm Standing Ovations.

Tatsächlich darf Cameron eine positive Bilanz ziehen. Zwar endete sie mit dem dramatischen Ausgang des EU-Referendums. Doch zuvor hatte Cameron erreicht, dass seine Partei wieder wählbar ist. Als er 2006 Parteichef wurde, stellte sich ihm eine Riesenaufgabe. Die Torys waren immer mehr nach rechts abgedriftet. Cameron schaffte es, sie zurück in die Mitte zu bringen.

2010 gewann er erstmals die Wahlen zum Unterhaus, musste allerdings eine Koalition mit den Liberaldemokraten eingehen. Als er 2015 die absolute Mehrheit der Sitze im Unterhaus gewann, musste er sein Versprechen erfüllen, das EU-Referendum abzuhalten. Wäre es zu einer Koalition gekommen, hätte er es nicht einhalten müssen.

Cameron mag sich ermutigt gefühlt haben, als die Volksabstimmung über die schottische Unabhängigkeit 2014 in einem Sieg für den Status quo endete. Doch im EU-Referendum ging die Strategie nicht auf, den Bürgern den Brexit zu verleiden, indem man die negativen wirtschaftlichen Konsequenzen beschwor. Jetzt wird zu seinem Vermächtnis gehören, die schädlichste außenpolitische Entwicklung der Nachkriegszeit verantworten zu müssen. Aus Großbritannien kann bald Klein-England werden. Nicht nur weil das Land womöglich wirtschaftlich leiden und außenpolitisch an Bedeutung verlieren wird. Sondern auch in geografischer Hinsicht: Das Wegbrechen von Schottland droht.

Seine Nachfolgerin muss Camerons Niederlage ausbaden. EU-Freundin Theresa May hat wiederholt versichert: „Brexit bedeutet Brexit, und wir machen daraus einen Erfolg.“ Ob sie allerdings erreichen kann, Zugang zum Binnenmarkt zu bekommen, wenn sie gleichzeitig Einschränkungen bei der Personenfreizügigkeit will, ist fraglich.

May will sich und ihr Amt nicht nur über das Europathema definieren, und sie will auch nicht nur eine Fortsetzung der Cameron-Regierung – auch wenn sie für Stabilität und Kontinuität steht. Also hat May die bisherige Vorgabe, bis zum Jahre 2020 das Defizit abzubauen und einen ausgeglichenen Haushalt zu erreichen, bereits kassiert. Das macht den Weg für staatliche Finanzspritzen frei. Zugleich ruft May nach Fairness für den kleinen Mann und greift die Gier der Bosse an. Das klingt fast schon sozialdemokratisch.