Brüssel.

Er macht noch einen Abstecher nach Spanien, aber dies ist Barack Obamas eigentlicher Abschied von Europa. Von den transatlantischen Verbündeten, von der EU, deren Führungsfiguren er am ersten Tag des Warschauer Nato-Gipfels getroffen hat; und indirekt auch von Russland, das während seiner Amtszeit wieder zum bedrohlichen Rivalen geworden ist. Obama geht, aber der große Verbündete bleibt: „In guten wie in schlechten Zeiten kann Europa auf die Vereinigten Staaten zählen“, gelobt der Präsident „Immer!“ Gute Zeiten sind es nicht, und hinter den Kulissen des Nato-Gipfels gab es auch manche Risse zu besichtigen.

„In den fast 70 Jahren der Nato haben wir es vielleicht noch nie mit einem solchen Bündel von gleichzeitigen Herausforderungen zu tun gehabt“, sagt Obama und zählt die schlimmsten auf: den internationalen Terrorismus, den Konflikt mit Russland, die Flüchtlingskrise und zu allem Überfluss nun auch noch den Brexit, den angekündigten Rückzug Großbritanniens aus der EU.

Gegenwärtig ist das US-Militär immer noch mit 60.000 Bediensteten auf dieser Seite des Atlantiks präsent. Weitere kommen nun hinzu: In Polen übernehmen die USA die Führung eines der vier Bataillone, mit denen die Nato laut Abschlusserklärung „die Präsenz unserer Streitkräfte im östlichen Teil der Allianz verstärken“ will. Daneben soll außerhalb des Nato-Verbundes eine weitere US-Brigade mit 4000 Mann stationiert werden.

Awacs Flugzeuge sollen im Kampf gegen IS aufklären

Das Abschlusskommuniqué des Warschauer Gipfels fasst die westliche Sicht des Verhältnisses zu Moskau in harte Worte: „Russlands aggressives Vorgehen, einschließlich provokativer Aktivitäten am Rand des Nato-Gebiets, und seine erkennbare Bereitschaft, politische Ziele durch Androhung und Einsatz von Gewalt zu erreichen, beeinträchtigen die regionale Stabilität, haben die euro-atlantische Sicherheit beschädigt und gefährden unser seit Langem verfolgtes Ziel eines geeinten, freien und friedlichen Europa.“

Angesichts solch massiver Vorwürfe und der Gipfel-Beschlüsse zur Aufrüstung in Polen und dem Baltikum rechnen es sich die Deutschen als Erfolg an, auch den diplomatischen Kontrapunkt im Kommuniqué untergebracht zu haben. „Wir sind weiter offen für einen regelmäßigen, konzentrierten und substanziellen Dialog“, heißt es da. Missverständnisse, Fehleinschätzungen, unbeabsichtigte Eskalation müssten vermieden, Transparenz und Vorhersagbarkeit verbessert werden.

Deswegen ist man in Berlin auch froh, dass beide Seiten am kommenden Mittwoch in Brüssel auf Botschafterebene zu einer Sitzung des Nato-Russland-Rates zusammenkommen. Für Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ist wichtig, „dass man sich gegenseitig informiert, was die jeweiligen Gegenseiten tun, damit Gefährdungen vermieden werden“. Im Übrigen gab sich die Kanzlerin im Gegensatz zum US-Kollegen Obama und den vor Stolz grenzenlos mitteilungsfreudigen polnischen Präsidenten Andrzej Duda wortkarg. Für Deutschland am wichtigsten ist die nun endgültig vereinbarte Führungsrolle beim künftigen Kampfbataillon in Litauen, dem zudem Soldaten aus den Beneluxstaaten und Norwegen sowie aus der deutsch-französischen Brigade angehören sollen.

Außerdem dürften Bundeswehrangehörige beteiligt sein, wenn AWACS-Flugzeuge der Nato vom türkischen Luftraum aus, Aufklärungshilfe für den Kampf gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“ in Syrien und dem Irak leisten. Auch bei der Unterstützung und Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte im Rahmen des Einsatzes „Resolute Support“ macht die Bundesrepublik weiter mit. Die USA bekräftigten in Warschau, dass sie entgegen der ursprünglichen Planung im kommenden Jahr mit unveränderter Truppenstärke – 8400 Mann – in Afghanistan präsent bleiben wollen. Im Mittelmeer wird aus der bisherigen Anti-Terror-Mission „Active Endeavor“ eine Operation, die auch der EU beim Kampf gegen Schleuser und Schlepper helfen soll.

Das Warschauer Treffen brachte auch die erste Begegnung der Kanzlerin mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan seit der Verabschiedung der Armenienresolution im Bundestag Anfang Juni. Ankara ist erbost, weil das Massaker des Osmanischen Reichs an den Armeniern 1915 als „Völkermord“ bezeichnet wird. Berlin ist aufgebracht, weil die Türken im Gegenzug Verteidigungspolitiker des Bundestags nicht mehr auf den Nato-Luftwaffenstützpunkt Incirlik lassen, obwohl dort auch 240 deutsche Soldaten Dienst tun.

Problembeseitigung kann Merkel hernach nicht melden. „Wir haben alle anstehenden Fragen besprochen“, teilt sie schmallippig mit. „Sachlich und konstruktiv“ sei es gewesen. „Dissense sind ja durch so ein Gespräch nicht weg. Aber ich glaube, es war wichtig, dass wir gesprochen haben.“ Von der türkischen Seite bekommt man ein ausführlicheres Ergebnisprotokoll, dessen Korrektheit mangels deutscher Einlassungen freilich nicht zu überprüfen ist. Merkel habe versichert, der Zwist dürfe keineswegs das gedeihliche Verhältnis beider Länder beschädigen. Erdogan seinerseits habe seine tiefe Verstimmung bekräftigt, aber auf eine Möglichkeit verwiesen, wie man aus der Sackgasse herauskommen könne: die vatikanische oder auch österreichische Lösung. Sowohl Papst Franziskus wie das Parlament in Wien haben in Sachen Armenier das V-Wort verwendet. Der Vatikan und die Wien stellten anschließend klar, dass es sich um eine persönliche beziehungsweise parlamentarische Meinung handle, die keineswegs als gesamtstaatliches Verdammungsurteil verstanden werden dürfe. Aus Sicht der Kanzlerin offenkundig kein Königsweg zur Beilegung des Konflikts.