Paris. Für die Franzosen geht es im EM-Halbfinale gegen die Deutschen neben dem Sport auch um Terrorbedrohung

Endlich spielen sogar die Gewerkschaften und die Sonne mit. Auf der letzten Geraden der Fußball-EM in Frankreich sind keine Streiks gegen die Arbeitsrechtsreform mehr zu vermelden – die Gewerkschaften beschränken sich derzeit auf Demonstrationen. Die bislang so überaus hartnäckigen Regenwolken sind abgezogen, und die Temperaturen steigen in Richtung sommerliche Verhältnisse. Auf einmal können und wollen sich auch die Franzosen über das große Fußballfest im eigenen Land freuen. Dem Halbfinalknaller Frankreich gegen Deutschland jedenfalls fiebern sie regelrecht entgegen.

Die Sorgen der Menschen in unserem krisengeschüttelten Nachbarland – sei es die Terrorbedrohung, die Hooligan- und Anarchistengewalt oder die hohe Arbeitslosigkeit – wurden in den Hintergrund gedrängt. In den Stadien, Fanmeilen und Kneipen herrscht eine ausgelassene Stimmung, und wenn die Franzosen doch schimpfen, dann in erster Linie über die Präsenz hoch gerüsteter Polizisten und Soldaten auf den Straßen, vor den Bahnhöfen, Stadien und Flughäfen. Sie wollen sich nach den langen, bedrückenden Monaten, die der Attentatsserie im November folgten, die erst spät aufgekommene Feierlaune nicht weiter verderben lassen.

Staatsspitze sendet widersprüchliche Signale aus

Einfach ist das nicht in einem Land, in dem nach wie vor der Ausnahmezustand herrscht und in dem sich die Begeisterung der Fans gegen die martialische Anmutung von Fanzonen stemmen muss, die wie der Gazastreifen bewacht werden – oder von Stadien, die zu Hochsicherheitsgefängnissen geworden sind. Es kommt hinzu, dass Staats- und Regierungsspitzen widersprüchliche Signale aussenden. Einerseits versucht Staatspräsident François Hollande, Gelassenheit vorzuleben, indem er demonstrativ alle Spiele der Trikolore-Elf besucht. Andererseits warnt er: „Das Land ist mit einer terroristischen Bedrohung sehr großen Ausmaßes konfrontiert.“ Premier Manuel Valls erging sich nach dem von einem Islamisten verübten Doppelmord an einem Polizistenpaar sogar in der düsteren Prophezeiung, dass „weitere Unschuldige ihr Leben verlieren werden“.

In das gleiche Horn stößt auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU). Er hält trotz des bislang weitgehend ruhigen Verlaufs der Europameisterschaft die Anschlagsgefahr noch nicht für gebannt. Je spektakulärer die Spiele würden und je stärker das französische Team beteiligt sei, umso mehr könne dies erneut „ein Anziehungspunkt“ für Terroristen sein, sagte er der Nachrichtenagentur Reuters in Berlin.

„Wir selbst haben keine ernstzunehmenden Hinweise auf Terroranschläge“, sagte de Maizière mit Blick auf das Halbfinal-Spiel zwischen Frankreich und Deutschland am Donnerstag. „Natürlich kann sich das noch ändern bei den verbleibenden Spielen.“ Es sei auch richtig, dass nicht voreilig Spiele abgesagt worden seien. Vor der Europameisterschaft hatte es massive Warnungen deutscher und internationaler Sicherheitsbehörden vor möglichen Anschlägen in französischen Städten gegeben.

Tatsächlich herrscht in Marseille und Frankreich nach wie vor Alarmstimmung. Mehr als 15.000 Polizisten, Soldaten und private Sicherheitsleute werden am heutigen Donnerstag Stadien, Fanmeilen und Stadtzentren abschirmen. Elite-Einsatzkräfte der Polizei werden obendrein so vorbereitet, dass sie im Ernstfall innerhalb von 20 Minuten eingesetzt werden können.

Die Umgebung des Stadions von Marseille wurde wie die des Stade de France in Paris in mehrere Sicherheitszonen aufgefächert. Zusätzlich zu den ohnehin sehr strengen Eingangskontrollen gibt es erste Sicht- und Gepäckkontrollen schon weit vorher an Absperrungen auf sämtlichen Zufahrtswegen. Darüber hinaus gilt über den Spielstätten ein striktes Flugverbot. Wie der EM-Sicherheitschef Ziad Khoury betonte, werden selbst eventuell herumfliegende Drohnen abgefangen. Und sollte es im letzten Augenblick dennoch Hinweise auf eine konkrete Anschlagsgefahr geben, behalten sich Regierung und Veranstalter vor, auch ein Geisterspiel ohne Publikum stattfinden zu lassen.

Kaum geringer ist der Aufwand, der rings um die großen Fanmeilen in allen 10 Austragungsstädten betrieben wird. Kein Besucher kann eine Fanzone betreten, ohne zuvor mehrfach kontrolliert worden zu sein. Dabei kommen nicht nur – wie in den Stadien – Überwachungskameras und Metalldetektoren zum Einsatz, sondern auch Sprengstoff-Spürhunde sowie – bei Leibesvisitationen – Spezialhandschuhe, die bei verdächtigen Gegenständen vibrieren, dazu gepanzerte Einsatzfahrzeuge und Überwachungskameras.

Offiziell heißt es von den Sicherheitsbehörden, dass man sich auf alle denkbaren Gefährdungen eingestellt habe. Attentate, ja selbst simultane Anschläge an mehreren Orten wie am 13. November im Pariser Stadtteil Saint-Denis, schließt das ein. Bei mehr als 50 Übungen, an denen Polizei, Gendarmerie, Armee, Feuerwehr, Notärzte und Hunderte von Statisten teilnahmen, ist bis kurz vor dem Beginn des Turniers die Koordination großer Notfall-Einsätze in Sportarenen und Fanmeilen durchgespielt worden. Zu den ihnen zugrunde liegenden Schreckensszenarien gehörten neben wilden Feuergefechten und Sprengstoffanschlägen sogar Giftgasangriffe.

Doch nicht nur die Terrorgefahr versetzt die Polizei in Alarmbereitschaft. Um Krawallen beim Halbfinale Deutschland-Frankreich vorzubeugen, achtet die Bundespolizei in der Grenzregion wieder verstärkt auf anreisende Hooligans. Ab Mittwochnachmittag werde entlang der deutschen Grenze in Rheinland-Pfalz und im Saarland verstärkt gefahndet, teilte die Bundespolizeiinspektion Trier mit. In den vergangenen Tagen hatten Beamte mehreren offensichtlich gewaltbereiten Fans in der Region die Einreise nach Frankreich untersagt. Bei den Kontrollen ging ihnen auch ein Osteuropäer ins Netz, der wegen schweren Bandendiebstahls gesucht wurde.

So präsent bei den Verantwortlichen das Thema Sicherheit ist – spätestens seit dem 5:2-Sieg der Trikolore-Elf über Island im Viertelfinale ist die Angst vor Terror in den Hintergrund geraten. Dabei ist die Angst vor Attentaten und Ausschreitungen unübersehbar. Die EM in Frankreich wird bis zum letzten Tag ein Hochsicherheitsturnier bleiben.