Berlin. IS-Terroristen setzen auf Kämpfer aus dem Süden Russlands – so auch beim Attentat in Istanbul. Die Zahl der Flüchtlinge in Deutschland steigt

Die Terroristen senden Glückwünsche in Richtung Kaukasus: Die Region sei nun offiziell zu einem neuen „Wilayat“ des selbst ernannten „Islamischen Staates“ erklärt worden, zu einem neuen Verwaltungsgebiet im Dschihadisten-Staat. Im IS-Propaganda-Magazin „Dabiq“ heißt es im August 2015: „Mehr und mehr Mudschahedin aus dem Kaukasus haben sich den Reihen des Kalifats angeschlossen.“

Die Glückwünsche kommen von einem der IS-Strategen persönlich, Muhammad al-Adnani. Denn die Terroristen wissen: Kämpfer aus dem Kaukasus sind meist gut trainiert, oftmals sind sie kampferprobt und ideologisch eingebettet in einen radikalen Islam. Vor allem der Norden des Kaukasus zählt zu einem der effizientesten Rekrutierungsgebiete des IS. In einem Video erklärte die Terrororganisation die Region um Dagestan, Tschetschenien, Inguschetien und Kabardino-Balkarien im Süden Russlands zum „Land des Dschihads“.

Auch die Spur zu den Organisatoren des Anschlags mit 45 Toten am Istanbuler Flughafen vergangene Woche führt zu Ahmed Tschatajew, ein bekannter Extremist aus Tschetschenien. Mit dem Attentat kehrt der Kaukasus zurück auf die Agenda der Sicherheitspolitik. Lange war es still geworden um die Region – doch sicher war sie nie.

Zwei Kriege erlebte Tschetschenien seit dem Ende der Sowjetunion, nationale Kämpfer wollten sich unabhängig machen von Russland. Es war ein Sezessionskrieg, doch schon damals beteiligten sich islamistische Söldner aus den arabischen Staaten am Kampf der militanten Nationalisten. Seit Jahren ist der Krieg vorbei, die Gewalt aber blieb bestehen: Islamisten schlugen zu, griffen mit Selbstmordkommandos Polizisten in der Region an, bekannten sich zu Anschlägen auf russische Einrichtungen oder auf unliebsame Imame.

Exportierte Russland den Dschihad vom Kaukasus?

Seit 2014 ging die Gewalt im Nordkaukasus zurück, deutlich weniger Menschen starben durch Attentate und Gegenangriffe der Sicherheitsbehörden. Doch Fachleute sehen darin eine trügerische Ruhe. Zahlreiche Salafisten flohen vor den Repressionen durch russische Sicherheitskräfte im Kaukasus. „Etliche Islamisten aus der Region sind in Richtung Syrien und Irak ausgereist und haben sich dem IS oder anderen Radikalen wie der Nusra-Front angeschlossen“, sagt Kaukasus-Experte Uwe Halbach von der Stiftung Wissenschaft und Politik im Gespräch mit dieser Redaktion. Sie verlagerten ihren Dschihad vom Kaukasus in die arabische Welt.

Russische Behörden schätzen die Zahl der ausgereisten Kämpfer auf 2900 bis 5000 – viele kommen aus dem Nordkaukasus. Lange Zeit folgten die islamistischen Gruppen im Kaukasus dem Netzwerk von Al-Qaida. Doch mehr und mehr Kämpfer laufen über zum IS, etwa von der einflussreichen Gruppe „Emirat Kaukasus“. Der Nordkaukasier Omar Schischani fuhr militärische Erfolge für den IS in Syrien ein. Tschatajew, der mutmaßliche Drahtzieher vom Istanbul-Attentat, soll auch die Rekrutierung von Söldnern aus der Region organisiert haben. Nach Aussagen zweier in der Türkei inhaftierter Islamisten habe es der IS vor allem auf arme Wanderarbeiter auch aus Zentralasien in den russischen Metropolen abgesehen – leichte Beute für den „Heiligen Krieg“. Mittlerweile pflegt der „Islamische Staat“ einen eigenen Propaganda-Kanal im Internet in russischer Sprache.

Mehrere Jahre spielte der Kreml nach Angaben von Experten die Gefahr durch IS-Terroristen herunter. Vorrang hatte der Kampf gegen Islamisten im eigenen Land. Es gebe sogar Hinweise darauf, dass man die Ausreise in den Dschihad aus den Kaukasus-Provinzen wohlwollend toleriert habe, sagt Experte Halbach, gerade vor den Olympischen Spielen 2014 in Sotschi, nicht weit entfernt von der Krisenregion. Mittlerweile jedoch wächst wie in den EU-Staaten auch in Russland die Sorge vor Angriffen durch den IS, vor allem nach dem Flugzeugabschuss auf dem Sinai im Oktober 2015. Putin fürchte eine „Brutalisierung“ islamistischer Bewegungen auch im eigenen Land.

Und so versuchen russische Sicherheitskräfte die Ausreisen zu verhindern, gehen gegen Islamisten und ihre Unterstützer vor. Als Ausdruck seiner Loyalität zum Kreml und für den eigenen Machterhalt geht Tschetscheniens Herrscher Ramsan Kadyrow harsch gegen Islamisten vor. Ganze Dörfer würden in diesem Kampf „in Sippenhaft“ genommen, sagt Experte Halbach. Menschenrechtler wie Tanja Lokschina kritisieren Gewalt gegen Unschuldige im Anti-Terror-Kampf.

Zur Gewalt kommt Armut, unter der die Menschen in der Region leiden. Experten wie Regina Heller von der Universität Hamburg sehen die Hinwendung vieler Kaukasier zum radikalen Islam zudem als ein Abwenden vom „traditionellen“ Islam, den viele mit der korrupten Machtelite verbinden würden. Und etliche Menschen fliehen gleich ganz aus der Region.

Auch nach Deutschland: Die Behörden erkennen einen starken Anstieg der Asylbewerber aus Russland seit Sommer 2015 – die große Mehrheit von ihnen sind Tschetschenen. Mehr als 80 Prozent der 3400 Antragsteller von Januar bis Ende Mai 2016 gaben bei ethnischer Zugehörigkeit „tschetschenisch“ an. Sie flohen über Weißrussland und Polen nach Deutschland.

Über die Ursachen für den plötzlichen Anstieg der Geflüchteten aus dem Nordkaukasus rätseln sowohl die deutschen Behörden als auch Experten wie Halbach. Schon immer flohen Menschen aus der Krisenregion. Die Lage ist stabil – wenn auch stabil schlecht. Neue Gewalt oder gar Krieg gibt es nicht.

Manche Sicherheitsleute in Deutschland mutmaßen gegenüber der „Welt“, dass Putin seine „Tschetschenien-Tür“ geöffnet habe – als Machtdemonstration gegen den Westen. Das Ziel dieser Taktik sei: Unruhe durch Flüchtlinge. Doch das bleibt Spekulation. Nur die Sorge der deutschen Behörden ist real: Mit den vielen Schutzsuchenden könnten auch Islamisten nach Deutschland kommen – auf der Flucht vor Russlands Gewalt im Anti-Terror-Kampf. Oder mit neuen Zielen.