Berlin.

Sein Antrittsbesuch in der Europäischen Union führt ihn nach Berlin. Wladimir Groisman, neuer Regierungschef der Ukraine, wird im Kanzleramt von Angela Merkel empfangen, bevor er in unsere Berliner Redaktion kommt. Im Interview lässt der 38-Jährige keinen Zweifel, wohin er sein Land steuern will.

Herr Groisman, selten hat ein so junger Regierungschef vor so großen Herausforderungen gestanden. Wie gehen Sie mit dem Erbe um, das Sie von Ihrem Vorgänger Jazenjuk übernommen haben?

Wladimir Groismann: Ich habe die große Verantwortung, die Reformen fortzusetzen. Dazu zählen die Bekämpfung der Korruption, die Verbesserung des Investitionsklimas und eine grundlegende Justizreform. Außerdem müssen wir Sicherheit und Verteidigung unseres Landes stärken. Die Aggression von außen hält an.

Wie ist die Lage im Osten der Ukraine?

Die Welt muss verstehen, was passiert: Russland hat Soldaten und Waffen auf das Territorium eines anderen souveränen Staates gebracht. In den vergangenen 24 Stunden wurden 72 Schüsse aus russischen Waffen auf unsere Stellungen abgefeuert. Tag für Tag werden ukrainische Soldaten und Bürger auf unserem eigenen Territorium von russischen Panzern aus beschossen.

Können Sie das belegen?

Absolut. Unsere Sicherheitsdienste haben zuverlässige Informationen. Sie haben sogar die Namen der russischen Kommandeure, die auf unserem Staatsgebiet operieren.

Russland ist militärisch überlegen. Welche Strategie verfolgen Sie?

Nur der Staat ist mächtig, der Recht und Gesetz achtet. Russland bezieht seine Kraft aus der Gewalt und missachtet das internationale Recht. Die Besetzung eines Teils unserer souveränen Ukraine ist eine Herausforderung für die gesamte zivilisierte Welt. Die Staatengemeinschaft muss Russland dazu zwingen, sich auf sein eigenes Territorium zurückzuziehen. Die Sanktionen dienen dazu, den Druck aufrechtzuerhalten.

Die Krim wurde von Russland annektiert, ein Rückzug scheint da nicht sehr wahrscheinlich …

Juristisch gesehen bleibt die Krim ukrainisch. Moskau hat auf der Schwarzmeerhalbinsel eine Militärbasis errichtet, die auch für andere Länder eine Bedrohung darstellt. Die Welt muss zusammenstehen. Deutschland als europäische Führungsnation spielt dabei eine besondere Rolle.

Fühlen Sie sich nicht ausreichend unterstützt?

Man darf die Krim nicht aufgeben. Wenn sich der Aggressor nicht zurückzieht, stellt sich für alle die Frage: Wer ist der nächste?

Was bedeutet das für die Sanktionen, die Europa verhängt hat?

Die Sanktionen gegen Russland müssen in vollem Umfang aufrechterhalten werden. Es gibt keinen Grund für eine Lockerung. Erlauben Sie mir einen Vergleich: Ein Bürger der Europäischen Union bekommt Besuch in seinem Haus. Bewaffnete kommen herein und besetzen einen Teil des Hauses. Der Bürger ruft die Polizei. Diese kommt – und macht nichts. Sie sagt: Diese Leute wohnen hier nur einige Zeit. Vielleicht schießen sie ein bisschen herum. Aber wir sollten nicht allzu großen Druck auf sie ausüben.

Tatsächlich hat der Westen erheblichen Druck entfaltet.

Die Sanktionen müssen so lange aufrechterhalten werden, bis Russland die territoriale Integrität der Ukraine achtet. Dabei setze ich auf die Unterstützung der ganzen zivilisierten Welt.

Welche Hoffnungen setzen Sie auf die Nato?

Ich erwarte, dass der Nato-Gipfel in Warschau eine klare Ukraine-Strategie liefern wird. Die Ukraine ist ein friedliches Land. Wir waren niemals eine Bedrohung für unsere Nachbarn. Wir stehen für europäische Werte. Unsere Aufgabe wird sein, eine moderne Armee aufzubauen, die der Verteidigung dient. Die ukrainische Armee muss den Nato-Standards entsprechen, und unsere Reformen kommen gut voran.

Wollen Sie die Ukraine in die Nato führen?

Für die Ukraine muss die Tür zur Nato offenstehen. Die Idee einer Mitgliedschaft in der Atlantischen Allianz hat auch die Unterstützung der ukrainischen Bevölkerung.

Was würde das der Nato bringen – außer einem eskalierenden Konflikt mit Russland?

Ich bin fest davon überzeugt: Wenn es an der Zeit ist, den Beitrittsdialog in Gang zu setzen, werden wir ausreichend Argumente zugunsten der Nato-Mitgliedschaft für die Ukraine finden.

Der deutsche Außenminister Steinmeier hat im Zusammenhang mit den Nato-Manövern an der östlichen Außengrenze von „Säbelrasseln und Kriegsgeheul“ gesprochen. Nehmen Sie das auch so wahr?

Ich glaube nicht, dass die Nato mit den Säbeln rasselt. Russland tut das – und zwar direkt vor der Nato-Grenze. Das zwingt die Atlantische Allianz zu einer Reaktion. Wenn man die Augen verschließt vor der russischen Bedrohung, wird sie nur noch größer.

Die Ukraine gehört als direkter Nachbar auch zu den denkbaren Beitrittskandidaten der EU. Für wie attraktiv halten Sie die Gemeinschaft gerade?

Wenn Sie auf das Brexit-Referendum anspielen: Ich respektiere das Recht eines souveränen Staates, eine solche Entscheidung zu treffen. Aber ich glaube immer, dass man Errungenschaften bewahren sollte. Die junge Generation in Großbritannien hat mehrheitlich für den Verbleib in der Europäischen Union gestimmt – und dies ist ein sehr wichtiges Signal. Die Ukraine hat nach der Revolution der Würde ganz klare Prioritäten gesetzt in Richtung der EU. Ein Assoziierungsabkommen wurde unterzeichnet, das als treibende Kraft wirkt für die Reformen, die gerade stattfinden. Wir müssen unsere Standards an die der EU angleichen.

Davon ist die Ukraine weit entfernt.

Es ist schon viel passiert – gerade bei der Korruptionsbekämpfung. Wir haben zum Beispiel völlige Transparenz bei den staatlichen Ausgaben geschaffen.

Es geht nicht nur um Korruption. Die UN haben einen Bericht vorgelegt, wonach der ukrainische Geheimdienst eigene Gefängnisse unterhält, in denen gefoltert und getötet wird …

Die Ukraine ist in einer schwierigen Lage. Unser Ziel ist, bis 2020 alle fundamentalen Reformen abgeschlossen zu haben. Dazu zählen zentral auch unsere Rechtsstaatsreformen.

Wann halten Sie einen EU-Beitritt für realistisch?

Ich bin davon überzeugt, dass die Ukraine in zehn Jahren in der EU sein wird. Wir gehen den europäischen Weg, und der bedeutet für uns: Freiheit, Menschenrechte und eine starke Wirtschaft.

Kann die Ukraine irgendwann auch seine Beziehungen zu Russland normalisieren?

Das ist eine sehr komplizierte Frage. Was Russland getan hat, wird die Beziehungen lange belasten. Und ich kann auch nicht erkennen, dass Moskau seine Politik ändert. Gerade verstärkt Russland seine Aggression.

Halten Sie sich an das Friedensabkommen von Minsk, das einen Sonderstatus für die Ostukraine vorsieht?

Wir haben eine Sonderverwaltung dieser Territorien in Betracht gezogen. Das strategische Ziel wäre, Regionalwahlen abzuhalten und eine Rückkehr dieser Gebiete zur Normalität einzuleiten. Die Ukraine ist ein einheitlicher Staat. Solange Russland in der Ostukraine den Krieg schürt, sind dort keine Wahlen möglich – und auch keine Selbstverwaltung.

Wären Sie bereit, dem russischen Präsidenten Putin die Hand zu geben?

Erst einmal müsste sich Putin bei der Ukraine entschuldigen. Die Ukraine ist niemals gegenüber Russland aggressiv gewesen. Ich weiß nicht, was ich den Familien sagen soll, deren Kinder – viele waren Zivilisten – durch russische Waffen getötet wurden. Es ist sehr wichtig, sich daran zu erinnern und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen.