London/Edinburgh.

Während in London die Politiker ratlos sind, wie sie mit dem Brexit umgehen sollen, will in Edinburgh Nicola Sturgeon die Gunst der Stunde nutzen. Die Ministerpräsidentin der schottischen Regionalregierung hat schnell und entschlossen auf den Ausgang des EU-Referendums reagiert. Sie erklärte, dass Schottland für den Verbleib in der Europäischen Union gestimmt habe, folglich nicht gegen seinen Willen aus der EU gezerrt werden wolle – und sie deswegen ein zweites Referendum über die nationale Unabhängigkeit anstreben werde. Jetzt wartet Nicola Sturgeon nur noch auf den taktisch richtigen Zeitpunkt, um die Volksabstimmung auszurufen.

Als ihre Partei, die linksliberale Scottish National Party (SNP), vor zwei Jahren das erste Unabhängigkeitsreferendum mit 55 zu 45 Prozent verlor, schlug die Stunde der 45-jährigen Politikerin. Sie übernahm vom damaligen Parteichef Alex Salmond den SNP-Vorsitz in einer Wahl, in der sich niemand gegen sie stellen wollte. Seitdem hat Sturgeon die SNP von einem Erfolg zum nächsten geführt. Die Mitgliederzahl stieg rasant in die Höhe, und die SNP drückte Labour, die in Schottland traditionell ihre Hochburgen hatte, an die Wand. Bei den Wahlen 2015 konnte die SNP in Edinburgh die absolute Mehrheit erringen. Im Londoner Unterhaus schwoll die SNP-Fraktion, die vormals sechs Abgeordnete hatte, um 50 weitere Mitglieder an. In ganz Schottland hat Labour noch einen Abgeordneten. Keiner Partei in Großbritannien ist jemals ein solcher Umschwung gelungen.

Die gerade einmal 163 Zentimeter große Schottin wurde zum heimlichen Star des Wahlkampfs 2015, nachdem sie in den TV-Debatten durch Witz, Intelligenz und Schärfe brillieren konnte. Die konservative Presse taufte sie: die „gefährlichste Frau Großbritanniens“.

Die Abneigung gegen die Konservativen war und ist immer noch Nicola Sturgeons Hauptmotiv. Sie wurde 1970 in Irvine als Tochter eines Elektrikers und einer Zahnarzthelferin geboren. Nach ihrem Studium in Glasgow arbeitete sie als Rechtsanwältin und spezialisierte sich auf Mieterschutz in sozialschwachen Wohnsiedlungen. Ihr politisches Bewusstsein wurde in den Thatcher-Jahren geprägt. „Die Torys sind schlecht für Schottland“, beschreibt sie schlicht ihre politische Maxime. 1999 wurde sie für die SNP als Abgeordnete ins Edinburgher Parlament gewählt. Fünf Jahre später bewarb sie sich für den Vorsitz, aber verzichtete zugunsten von Alex Salmond, dem sie bis zur Nachfolge als Stellvertreterin diente. „Salmond war mein großer Freund und Mentor“, sagte sie in einem Interview. „Aber jetzt bin ich der Boss.“