Berlin.

Die Zahl hat Wucht: 11.000 in vier Tagen. So viele Menschen retteten Helfer, Küstenwache und Grenzbeamte zuletzt aus Seenot im Mittelmeer. Sie flohen in Booten vor allem von Libyen in Richtung Italien, das berichtet die italienische Nachrichtenagentur Ansa. Der Sommer ist da, und damit treten wie jedes Jahr Tausende Menschen die gefährliche Überfahrt an. 2500 Menschen starben bis Ende Mai – noch nie waren es mehr. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex sieht einen Wandel in der Fluchtkrise – weg von der griechischen Küste, hin zum Meer zwischen Libyen und Italien. „Die zentrale Mittelmeerroute ist so stark frequentiert wie noch nie“, sagt der Direktor der EU-Behörde, Fabrice Leggeri, im Gespräch mit dieser Redaktion. „Mittlerweile kommen aus Libyen 13- bis 14-mal mehr Flüchtlinge nach Italien als Migranten aus der Türkei nach Griechenland.“

Die Dynamik nimmt zu. Von April zu Mai verdoppelte sich die Zahl der Menschen, die nach Italien flohen, laut Frontex waren es 19.000. Noch im vergangenen Jahr waren die meisten Syrer, die über das Mittelmeer reisten. Das hat sich gewandelt. Der große Teil der Schutzsuchenden kommt aus Ländern wie Eritrea am Horn von Afrika, wo ein brutales Militärregime an der Macht ist.

Zunehmend registrieren die EU-Beamten auch Geflüchtete aus Nigeria, Guinea, Niger, Gambia und der Elfenbeinküste. Staaten, in denen es immer wieder zu Gewalt durch Milizen, Islamisten oder Polizei kommt – sogar zu Folter wie in Gambia. Korruption ist an der Tagesordnung, Herrscher oft Autokraten. Aber auch Staaten, in denen kein Krieg herrscht und Regierungen Fortschritte erzielen konnten. Vor allem leben viele Menschen in Armut, der Lohn reicht oft nicht zum Leben. „Aus Senegal, Gambia, Elfenbeinküste und Niger fliehen viele aus wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit“, sagt Leggeri.

Die Menschen reisen mithilfe von lokalen Schleusernetzwerken durch die Gebiete der Sahara in den Norden Afrikas. Manchmal dauert die Flucht Monate oder gar Jahre, schreibt Frontex in einem aktuellen Bericht. Sie wollen vor allem nach Libyen, weil dort nach der Ghaddafi-Diktatur Chaos herrscht – ideales Terrain für Schleuser.

„Wenn die Migrationsströme aus Westafrika in Richtung Libyen anhalten, müssen wir mit etwa 300.000 Menschen rechnen, die dieses Jahr aus Westafrika in die nördlichen Maghreb-Staaten fliehen, um weiter nach Europa zu reisen“, sagt Frontex-Chef Leggeri. Wie viele tatsächlich die Überfahrt antreten würden, wisse die Behörde nicht. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR zählte bisher 60.000 Menschen, die nach Italien flohen, fast drei Viertel von ihnen sind Männer.

Neben Libyen erkennt Frontex eine neue Fluchtroute – von Ägypten in Richtung Europa. „In diesem Jahr liegt die Zahl bei etwa 1000 Überfahrten per Schlepperboot aus Ägypten nach Italien. Und die Route wächst“, sagt Leggeri. Der Franzose warnt: „Die Fluchtkrise ist nicht überwunden. Die Menschen fliehen noch immer. Es gibt sogar mehr Flüchtlinge auf der Welt als je zuvor.“

Wie auch schon mit der Türkei plant die EU-Kommission daher „Migrationspartnerschaften“ mit mehreren Staaten Afrikas. Die EU will Migranten schneller dorthin zurückschicken, sobald ihr Asylgesuch abgelehnt wurde. Auch Schleusergruppen sollen durch den Pakt bekämpft und Grenzen verstärkt werden. Langfristig setzt Brüssel mit dem Programm auf den Kampf gegen Korruption und Hunger. Als Hilfe will die EU auch Investoren aus dem Westen nach Afrika locken. Bis zu acht Milliarden Euro plant die EU bis 2030 in ihrem Etat. Wer kooperiert, erhält mehr Hilfe. Wer sich sperrt, weniger.

Menschenrechtler kritisieren die Partnerschaften mit Afrika

Leggeri unterstützt diese Partnerschaften. „Es geht vor allem um die Entwicklung von Wirtschaft und Rechtsstaat. Das ist die wichtigste Maßnahme im Kampf gegen Fluchtursachen.“ Nur koste diese Politik Zeit und Geld, hebt er hervor. „Das müssen wir investieren.“

Menschenrechtsorganisationen kritisieren die geplanten Abkommen dagegen deutlich. Vor dem EU-Gipfel in Brüssel appellierten sie an die EU-Staatschefs, den Plänen zur „Migrationsabwehr“ nicht zuzustimmen. „Verantwortlichkeit zur Wahrung der Menschenrechte enden nicht an Europas Grenzen“, heißt es in einer Erklärung von 104 Gruppen, darunter Amnesty International und Human Rights Watch. Umstritten sind laut Medienberichten auch vorsichtige Gespräche mit Diktaturen wie in Eritrea oder Sudan.

Als zweite Maßnahme aufgrund steigender Flüchtlingszahlen im Mittelmeer stärkt die EU ihre Grenzschutzagentur. Für deren Einsätze sollen die EU-Staaten eine Reserve von mindestens 1500 Grenzschützern bereitstellen. EU-Botschafter der Mitgliedsstaaten segneten das Projekt bereits ab. Sperrt sich ein Land gegen einen Einsatz von Frontex, können die anderen EU-Staaten mit vorübergehenden Grenzkontrollen reagieren. Die Grünen in Brüssel kritisieren die neuen Machtbefugnisse. Ein möglicher Ausschluss von Staaten aus dem Schengenraum gehe „an die Substanz der EU“.

Frontex-Chef Leggeri hebt hervor, dass es bei der Bewältigung der Fluchtkrise auch legale Wege nach Europa geben muss – zum Schutz der Migranten, aber auch im Kampf gegen Waffen- und Drogenschmuggler, die Fluchtrouten für ihre Zwecke nutzen. Als 2015 Zehntausende Menschen von der Türkei nach Griechenland flohen, saßen in den Schlepperbooten bis zu 80 Prozent Syrer. „Hätte es für diese schutzbedürftigen Menschen legale Wege nach Europa gegeben, wie etwa humanitäre Sonderflüge aus den Flüchtlingscamps im Libanon, Türkei oder Jordanien, dann hätten wir nicht diese großen Probleme an der EU-Außengrenze bekommen“, sagt Leggeri. Ein Punkt, den sowohl EU-Kommission als auch Menschenrechtsorganisationen fordern.