London.

Während der Rest von Europa darauf wartet, wie es mit dem Brexit weitergehen soll, herrscht in London Stillstand. Die britische Regierung hält sich bedeckt. Premierminister David Cameron spielt auf Zeit. Er hatte am Freitag in seiner Ansprache in der Downing Street deutlich gemacht, dass er die Austrittsverhandlungen mit der Europäischen Union nicht selbst führen will. Cameron will dies seinem Nachfolger überlassen.

Bis dahin, so die Botschaft, geschehe erst einmal nicht viel. Die „Times“ berichtet, wie Cameron seinen Beratern seinen Rücktritt erklärt habe: „Warum soll ich die ganze harte Scheiße erledigen, bevor jemand anderes übernimmt?“

Geisterstunde in London. Es ist, als ob nach dem Erdbeben des Brexit die politische Führung in Schockstarre gefallen ist. Der Schatzkanzler George Osborne, der sich im Wahlkampf an Camerons Seite vehement für einen EU-Verbleib eingesetzt hatte, wurde nach der Bekanntgabe des Referendumergebnisses am Freitag nicht mehr gesehen. Auch Boris Johnson, Anführer und Galionsfigur des Brexit-Lagers, tauchte über das Wochenende ab, zog sich in sein Haus auf dem Land zurück, spielte ein bisschen Cricket.

Der Grund für die allgemeine Paralyse: Das Brexit-Lager hat keinen ausgearbeiteten Plan, wie es weitergehen soll – wohl weil man gar nicht davon ausgegangen war, das Referendum tatsächlich zu gewinnen. Die Überraschung und Überforderung war dem Gesicht von Johnson anzusehen, als er am Freitag, vom Ergebnis noch geschockt, in seiner Ansprache nur Allgemeinplätze zu verkünden hatte.

In London herrscht ein Machtvakuum. Nach Camerons Rücktritt beginnt in der Konservativen Partei zwar der Kampf um die Führung. Doch die diversen Kandidaten bringen sich nur hinter den Kulissen in Stellung. Niemand will vorpreschen.

Der Schatzkanzler versucht, die Märkte zu beruhigen

Am Montagmorgen tauchte der Schatzkanzler George Osborne wieder auf. Er gab ein Statement ab, das die Märkte beruhigen sollte. Das Land, sagte er, könne sich der Zukunft „in einer Position der Stärke“ stellen. Allerdings rechne er mit „Turbulenzen an den Finanzmärkten“ sowie einer „Anpassung für die Volkswirtschaft“ – also mit einer möglichen Rezession. Gefragt, wann die Regierung die Austrittsverhandlungen beginnen wolle, unterstrich Osborne: „Nur Großbritannien kann den Artikel 50 des Lissabonvertrages auslösen.“ Mit diesem Akt würde offiziell die zweijährige Verhandlungsphase beginnen, worauf eine Reihe von EU-Ländern als auch das EU-Parlament drängen. „Meiner Ansicht nach“, antwortete ihnen Osborne, „sollten wir das erst dann tun, wenn es eine klare Sichtweise darüber gibt, welche neuen Arrangements wir mit unseren europäischen Nachbarn wollen.“ Soll heißen: Die Austrittsverhandlungen sollen erst dann beginnen, wenn die Konservativen einen neuen Parteivorsitzenden haben und das Land einen neuen Premierminister, also frühestens Anfang September.

Der Sieger der Stunde und Premier in spe Boris Johnson meldete sich nach dem Wochenende auch wieder zurück, und zwar mit seiner regelmäßigen Kolumne für die Zeitung „Daily Telegraph“. Dort gab er zumindest ein paar Hinweise darauf, wie er sich den Brexit vorstellt. Auch er unterstrich, dass es „keine große Eile“ mit den Änderungen habe, die auf Großbritannien zukämen. Ansonsten versuchte er die Briten zu beruhigen. „Ich kann nicht genug betonen“, schrieb Johnson, „dass Großbritannien Teil Europas ist und immer sein wird.“ Während des Wahlkampfes verglich er die EU noch mit Hitlers Nazideutschland, weil die Europäische Union einen Superstaat anstrebe.

Die Opposition ihrer Majestät hat dieser Ratlosigkeit nichts entgegenzusetzen. Die Labour-Partei kämpft mit ihrem eigenen Machtvakuum. Parteichef Jeremy Corbyn droht der Putsch. Mehr als 20 Mitglieder seines Schattenkabinetts haben die Zusammenarbeit aufgekündigt. Der Vizechef Tom Watson sagte Corbyn ins Gesicht, dass er keine Autorität innerhalb der Fraktion genieße. Die Fraktion fürchtet, dass es bald zu vorgezogenen Neuwahlen kommen könnte. Und mit Corbyn an der Spitze erwartet Labour eine weitere Schlappe an den Wahlurnen.