Berlin.

Volksabstimmungen haben in der Geschichte der Europäischen Union bereits öfter eine wichtige Rolle gespielt. So waren es die Iren, die mit ihrer Ablehnung des Vertrags von Lissabon 2008 die EU in eine Krise stürzten. Oder das Griechenland-Referendum im Juli 2015. Die Griechen lehnten inmitten der Schuldenkrise die Sparvorgaben der internationalen Gläubiger selbstbewusst ab. Ein Krisengipfel in Brüssel verhinderte in letzter Minute den Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone. Doch die Abstimmung der 46.499.537 Wahlberechtigten darüber, ob sie die EU verlassen oder nicht, ist ein historisches Votum über das weitere Schicksal der Europäischen Union. Wen träfe der Brexit genannte Ausstieg härter – Großbritannien oder Europa?

Politik

„Raus ist raus“: Nach einem Brexit wird für Großbritannien nichts mehr so sein wie früher – das sind die deutlichen Warnungen aus Brüssel Richtung London. Das Votum der Briten sei endgültig. Nachverhandlungen würden einen EU-Austritt der Briten nicht rückgängig machen. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker formulierte, Großbritannien würde akzeptieren müssen, wie ein „Drittstaat“ behandelt zu werden. Es werde keine besondere Wohlfühlbehandlung mehr geben.

Zudem dürfte der Austritt die Regierung in London gefährden. Besonders tragisch wäre ein Brexit für den britischen Premier David Cameron. Der 49-Jährige könnte den Geistern, die er rief, zum Opfer fallen. Er schlug das Referendum über einen Ausstieg aus taktischen Gründen vor, um so den extrem konservativen Rand der Partei ruhigzustellen und den EU-Gegnern der Partei Ukip die Wähler abzujagen. Vor der Unterhauswahl 2013 kündigte der Chef der Konservativen an, im Falle seiner Wiederwahl bis spätestens 2017 ein Referendum abzuhalten. Er setzte darauf, dass sich die Briten vor allem aus ökonomischen Gründen dem Brexit verweigern – allerdings kamen ihm die Flüchtlingskrise und eine Anti-Establishment-Bewegung dazwischen.

Nun wirbt der Regierungschef vehement für den Verbleib in der Union. Sollten sich die Briten jedoch für einen Austritt entscheiden, wären seine Tage als Regierungschef wohl gezählt. Sein Parteifreund, der Ex-Bürgermeister von London und wortgewaltige Brexit-Befürworter Boris Johnson, lauert schon. Auch Schottland könnte sich seine politische Zugehörigkeit zur Insel erneut überlegen. Rund zwei Drittel der Schotten lehnen einen Brexit ab. Regierungschefin Nicola Sturgeon drohte bereits mehrfach mit einem zweiten Unabhängigkeitsreferendum in Schottland.

Für die EU hätte ein Austritt politische Folgen. Besonders groß sind die Ängste vor einem Dominoeffekt. Andere europakritische Länder wie etwa Dänemark und Schweden könnten ihre Mitgliedschaft überdenken. Die Europagegner in den Mitgliedsländern bekämen weiter Auftrieb.

Ein Brexit könnte mittelfristig auch die deutschen Steuerzahler teuer zu stehen kommen. Denn Großbritannien ist nach Deutschland und Frankreich der drittgrößte Einzahler in den EU-Haushalt. Fallen die Briten aus, muss neu über die Finanzierung des EU-Budgets verhandelt werden. Der Beitrag der Briten ist trotz des „Briten-Rabatts“, den die damalige Premierministerin Margaret Thatcher 1985 leidenschaftlich erstritten hatte, erheblich. 2014 zahlten sie fünf Milliarden Euro mehr ein als sie erhielten, bei Deutschland waren es 15,5 Milliarden Euro. Wie viel Geld Deutschland zusätzlich nach Brüssel überweisen müsste, ist abhängig von Verhandlungen. Ein Betrag von 2,5 Milliarden Euro im Jahr gilt als realistisch.

Fazit: Für die EU und Deutschland wird es politisch unangenehm und teuer. Für die Briten steht ihre Regierung und die Einheit des Königreichs auf dem Spiel.

Wirtschaft

Die offizielle Kampagne der Brexit-Gegner setzte in den vergangenen Wochen vor allem darauf, die wirtschaftlichen Nachteile eines EU-Austritts hervorzuheben. Der Finanzminister George Osborne rechnete vor, dass ein Brexit jeden britischen Haushalt 4300 Pfund (5580 Euro) jährlich kosten würde. Premier David Cameron warnte vor Rentenkürzungen und Steuererhöhungen. Viele Briten fühlten sich erpresst. Doch auch unabhängige Institutionen warnen: Nach neuesten Schätzungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) wird das Bruttoinlandsprodukt in Großbritannien 2018 zwischen 1,3 und 5,2 Prozent niedriger liegen.

Clemens Fuest, Leiter des Münchener Ifo-Instituts, lehrte fünf Jahre in Oxford. Er spricht von einem riskanten Unterfangen und einem dauerhaften Schaden für die britische Wirtschaft. „Für Deutschland werden zwischen minus 0,2 und minus 0,5 Prozent erwartet“, sagte er dieser Redaktion. Für Großbritannien ist vor allem der Zugang zum europäischen Markt extrem wertvoll. Über 40 Prozent der britischen Exporte gehen in die EU, umgekehrt sind es knapp zehn Prozent.

Für beide ist jeweils der andere der größte bilaterale Handelspartner. Volkswirte fürchten, dass Großbritannien mindestens zehn Jahre bräuchte, um die durch einen Brexit entstehende Lücke bei den Exporten zu schließen. Von rund 60 Handelsverträgen spricht der IWF, die London in den nächsten Jahren für sich neu aushandeln müsste.

Für deutsche Exporteure ist Großbritannien der weltweit drittwichtigste Absatzmarkt – nach den USA und Frankreich. Waren im Wert von fast 90 Milliarden Euro verkauften die deutschen Unternehmen 2015 auf die Insel. Neue Zollschranken und Handelshemmnisse sind den Unternehmen deswegen ein Graus. So spricht der deutsche Handelspräsident Anton Börner auch von einer „Katastrophe, vor allem für uns in Deutschland“. Die Experten der DZ Bank errechneten, dass der deutschen Wirtschaft im schlimmsten Fall allein bis 2017 Einbußen von bis zu 45 Milliarden Euro drohen. Betroffen wären auch einige der größten deutschen Konzerne, die kräftig investiert haben und deren Gewinne schrumpfen dürften – vom Reisekonzern Tui über die beiden Discounter Aldi und Lidl, den Energiekonzern Eon bis hin zum Autobauer BMW.

Fazit: Wirtschaftlich wäre ein Austritt für beide Seiten ein Desaster. Die Briten hätten aber größere Schwierigkeiten, wieder Fuß zu fassen.

Finanzen

Die niederländische Bank ING unterrichtete ihre Kunden bereits frühzeitig, dass es um den Abstimmungstermin herum zu Schwierigkeiten im Handel kommen könnte. Denn sollte der Brexit kommen, werden turbulente Tage an den Finanzmärkten befürchtet, vor allem an den Devisenmärkten. Finanzexperten halten einen Absturz des Pfund auf den tiefsten Stand seit 30 Jahren für möglich. Bei der Commerzbank geht man von einem Minus zwischen acht und zehn Prozent aus. Das macht es für britische Firmen leichter, ihre Produkte ins Ausland zu verkaufen. Weil das Land aber mehr ein- als ausführt, muss das Land mehr ausgeben – die Preise würden steigen. Urlaube in Großbritannien würden allerdings günstiger.

Ob die City of London, der berühmte Finanzplatz, ihre Position als weltweit führender Devisenhandelsplatz halten könnte, ist mehr als fraglich. Schließlich würden europäische Transaktionen dann im Ausland abgewickelt.

Fazit: Der Finanzplatz London würde leiden, aber die generell unsichere Zukunft und Kostensteigerungen im Handel könnten überall den wert europäischer Konzerne einbrechen lassen.

Zusammengefasst: Ein Brexit wäre hart für alle – der Verlierer aber heißt Großbritannien.