Edinburgh.

Man hätte nicht deutlicher sein können. „Lasst uns zusammenbleiben“, lautet die Schlagzeile auf der Titelseite des schottischen „Daily Record“. Die Zeitung bezieht in den letzten Tagen vor dem Referendum über die britische Mitgliedschaft in der Europäischen Union deutlich Stellung. „Liebes England“, wirbt das Blatt, „wir wollen in der EU bleiben und fragen Euch respektvoll: Bleibt auch. Bleibt mit uns.“

Schottland zittert. Denn in der Volksabstimmung über den EU-Verbleib steht es unentschieden in den Meinungsumfragen. Mal liegen die „Outer“ vorne, mal das Lager der EU-Freunde. Für die Schotten wäre der Brexit eine Katastrophe. Sie sind zwar keine glühenden Freunde der Europäischen Union, aber drinbleiben wollen sie auf jeden Fall. Eine klare Zweidrittelmehrheit spricht sich für die Mitgliedschaft aus. Wenn die Stimmen in England, die rund 80 Prozent der Wählerschaft ausmachen, den Ausschlag geben, würde Schottland gegen seinen Willen aus der EU gezerrt. Dann würde sich das Land überlegen, ob es nicht besser aus der Union mit England austritt.

Alisha McMillan und Erin Mwembo hoffen, dass die Stimmen in Schottland den Ausschlag geben werden. Die jungen Frauen gehören der SNP Youth, der Jugendorganisation der Schottischen Nationalen Partei (SNP) an, die in Edinburgh die Regionalregierung stellt. Alisha und Erin machen noch einmal Druck. „Ich kann nicht begreifen“, meint Alisha, „dass Leute nicht zur Wahl gehen werden. Unsere ganze Zukunft hängt davon ab.“ Sie verteilt Flugblätter in der Innenstadt, auf dem Einkaufsboulevard Princes Street gegenüber der Waverley-Station, dem Hauptbahnhof. Ein oft frustrierendes Geschäft: Passanten ignorieren sie, die wenigsten nehmen ein Flugblatt.

„Wir müssen in der EU bleiben“, meint Alisha, „damit Arbeitnehmerrechte geschützt bleiben.“ Für ihre Freundin Erin ist der Hauptgrund ein anderer: „Wir können alle arbeiten, reisen und studieren in Europa, ohne Visa.“ Auf den SNP-Flugblättern werden weitere Gründe aufgezählt: Rund 336.000 Jobs hängen am Handel mit der EU, der schottische Export hat ein Volumen von 11,6 Milliarden Pfund, umgerechnet rund 15 Milliarden Euro. Nicht nur schottische Bauern profitieren von EU-Subventionen, sondern auch Universitäten, Arbeitnehmer und Auszubildende. Man rechnet mit 1,7 Milliarden Pfund an EU-Geldern über die nächsten fünf Jahre.

„Schotten sind pragmatische Europa-Freunde, keine leidenschaftlichen Liebhaber“, sagt Jan Eichhorn, Politologe an der Universität von Edinburgh. „Nur fünf Prozent identifizieren sich als europäisch, verglichen mit einem Drittel in Deutschland.“ Vorbehalte gegenüber der Brüsseler Bürokratie seien in Schottland genauso verbreitet wie in England. „Man entscheidet sich auf pragmatischer Basis, wie schon im Unabhängigkeitsreferendum vor zwei Jahren. Die Leute sind gegen einen Austritt, weil sie denken: Dann wird es uns wirtschaftlich schlechter gehen.“

Der Wahlforscher würde persönlich kein Geld auf den Ausgang wetten wollen. Sollten in Schottland die Befürworter an die 70 Prozent erreichen, könnte das den Ausschlag geben. „Entscheidend wird wohl der sogenannte Status-quo-Effekt“, erklärt Eichhorn. Denn in den letzten Tagen tendieren die Wähler in der Regel dazu, sich gegen das Risiko eines Wechsels zu entscheiden. „Wir sehen das schon jetzt an dem leichten Umschwung für das Verbleibelager.“

Auch David Torrance, Publizist und Beobachter der Referendumskampagnen – der jetzigen wie auch der vor zwei Jahren –, hält es für möglich, dass der Ausgang in Schottland zum wahlentscheidenden Faktor wird, „aber dafür müsste es schon recht eng werden, immerhin stellt Schottland nur zehn Prozent der Wählerschaft“. Käme es zum Brexit, würde in Schottland wieder das Thema der nationalen Unabhängigkeit hochkochen. „Doch die SNP“, so Torrance, „wird nur dann ein zweites Unabhängigkeitsreferendum ansetzen, wenn die Umfragen eine 60-prozentige Zustimmung zeigen – wo wir zur Zeit noch lange nicht sind.“

Ihm graut vor einer erneuten Volksabstimmung. „Ein konstitutionelles Referendum hat einen ziemlich destruktiven Einfluss auf den öffentlichen Diskurs. Alles wird dann nur noch in Schwarz und Weiß gesehen.“ Und das hat Konsequenzen. Im schottischen Unabhängigkeitsreferendum vor zwei Jahren habe man einen massiven Verfall der politischen Streitkultur erlebt: Da wurden Experten als parteiisch abgetan, der politische Gegner als Lügner hingestellt, Fakten ignoriert, und schließlich glaubte keine Seite der anderen irgendetwas mehr. „Genau das erlebt jetzt auch England“, unterstreicht Torrance. Wenn die EU-Freunde knapp gewännen, werde es hinterher reichlich Leute geben, die von Betrug reden würden.

Im Pub streiten die Schotten lieber über Fußball

Im „Sandy Bells“, einem Pub, bekannt für seine Folkkonzerte, ist der öffentliche Diskurs friedlich. Dunkel verrauchte Holzvertäfelung, ausrangierte Fiedeln und Gitarren als Deko an der Wand, rund ein Dutzend verschiedener Ales an den Zapfsäulen: Europa ist hier kein Streitthema. Die Gäste unterhalten sich lieber über Fußball. Wählen werden sie schon gehen, aber ihr Ja zur EU kommt ohne großen Enthusiasmus. „Wir sollten drinbleiben“, meint Erik, ein 64-jähriger Koch, „denn wenn wir austreten, gibt es Ärger. Die Arbeitslosigkeit wird ansteigen, und alles wird teurer.“ Sein Freund Fergus stimmt zu. „Die EU ist nicht perfekt. Wir müssen zum Beispiel viel zu viel Geld zahlen. Aber einen Brexit riskieren? Lieber nicht. Wir haben da ein Sprichwort: Besser den Teufel, den man kennt.“